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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Entdeckung.

Das Alles sind Ergebnisse der geographischen Entdeckungen!
Natürlich nicht wie Wirkungen, die auf Ursachen folgen, wohl aber
wie Ereignisse, welche durch bestimmte Vorfälle veranlasst worden
sind. Hätten wir Freiheit besessen, so hätte der historische Ent-
wickelungsgang unseres Entdeckungswerkes ein anderer sein können,
wie dies aus dem Beispiel Roger Bacon's deutlich genug hervorgeht;
doch natura sese adjuvat: alle Wege bis auf den einen der geo-
graphischen Entdeckungen waren uns gewaltsam abgesperrt worden;
dieser blieb offen, weil alle Kirchen den Geruch des Goldes lieben und
weil selbst ein Columbus davon träumte, mit den erhofften Schätzen
eine Armee gegen die Türken auszurüsten; und so wurde die geo-
graphische Entdeckung die Grundlage zu allen anderen, damit zugleich
das Fundament unserer allmählichen, doch noch lange nicht vollendeten
geistigen Emanzipation.

Leicht wäre es, den Einfluss der Entdeckung der Welt auf alle
anderen Lebenszweige nachzuweisen: auf Industrie und Handel, da-
durch aber zugleich auf die wirtschaftliche Gestaltung Europas, auf
den Landbau, durch die Einführung neuer Nutzpflanzen (z. B. der
Kartoffel), auf die Medizin (man denke an das Chinin!), auf die
Politik, u. s. w. Ich überlasse das dem Leser und mache ihn nur
darauf aufmerksam, dass auf allen diesen Gebieten der erwähnte Ein-
fluss zunimmt, je näher wir unserem 19. Jahrhundert rücken; mit
jedem Tag wird unser Leben im Gegensatz zum früheren "euro-
päischen" in ausgesprochenerer Weise ein "planetarisches".

Noch ein grosses Gebiet tiefgehender und in diesem Zusammen-Der Idealismus.
hang wenig beachteter Beeinflussung giebt es, das nicht unerörtert
bleiben darf, und zwar um so weniger als gerade hier die unaus-
bleiblichen Folgen der Entdeckungen am langsamsten sich einstellen
und kaum erst in unserem Jahrhundert deutliche Gestalt zu gewinnen
begannen: ich meine, den Einfluss der Entdeckungen auf die Religion.
In Wahrheit hat durch die Entdeckung -- erst der Sphäroidalgestalt
der Erde, sodann ihrer Stellung im Kosmos, sodann der Bewegungs-
gesetze, sodann der chemischen Struktur der Stoffe usw., usw. --
eine lückenlos mechanische Deutung der Natur sich als unabweislich,
als einzig wahr ergeben. Sage ich "einzig wahr", so meine ich einzig
wahr für uns Germanen; andere Menschen mögen -- in Zukunft wie
in der Vergangenheit -- anders denken; auch unter uns regt sich hin
und wieder eine Reaktion gegen das allzu einseitige Vorwalten rein
mechanischer Naturdeutung; doch lasse man sich nicht durch vor-

Entdeckung.

Das Alles sind Ergebnisse der geographischen Entdeckungen!
Natürlich nicht wie Wirkungen, die auf Ursachen folgen, wohl aber
wie Ereignisse, welche durch bestimmte Vorfälle veranlasst worden
sind. Hätten wir Freiheit besessen, so hätte der historische Ent-
wickelungsgang unseres Entdeckungswerkes ein anderer sein können,
wie dies aus dem Beispiel Roger Bacon’s deutlich genug hervorgeht;
doch natura sese adjuvat: alle Wege bis auf den einen der geo-
graphischen Entdeckungen waren uns gewaltsam abgesperrt worden;
dieser blieb offen, weil alle Kirchen den Geruch des Goldes lieben und
weil selbst ein Columbus davon träumte, mit den erhofften Schätzen
eine Armee gegen die Türken auszurüsten; und so wurde die geo-
graphische Entdeckung die Grundlage zu allen anderen, damit zugleich
das Fundament unserer allmählichen, doch noch lange nicht vollendeten
geistigen Emanzipation.

Leicht wäre es, den Einfluss der Entdeckung der Welt auf alle
anderen Lebenszweige nachzuweisen: auf Industrie und Handel, da-
durch aber zugleich auf die wirtschaftliche Gestaltung Europas, auf
den Landbau, durch die Einführung neuer Nutzpflanzen (z. B. der
Kartoffel), auf die Medizin (man denke an das Chinin!), auf die
Politik, u. s. w. Ich überlasse das dem Leser und mache ihn nur
darauf aufmerksam, dass auf allen diesen Gebieten der erwähnte Ein-
fluss zunimmt, je näher wir unserem 19. Jahrhundert rücken; mit
jedem Tag wird unser Leben im Gegensatz zum früheren »euro-
päischen« in ausgesprochenerer Weise ein »planetarisches«.

Noch ein grosses Gebiet tiefgehender und in diesem Zusammen-Der Idealismus.
hang wenig beachteter Beeinflussung giebt es, das nicht unerörtert
bleiben darf, und zwar um so weniger als gerade hier die unaus-
bleiblichen Folgen der Entdeckungen am langsamsten sich einstellen
und kaum erst in unserem Jahrhundert deutliche Gestalt zu gewinnen
begannen: ich meine, den Einfluss der Entdeckungen auf die Religion.
In Wahrheit hat durch die Entdeckung — erst der Sphäroidalgestalt
der Erde, sodann ihrer Stellung im Kosmos, sodann der Bewegungs-
gesetze, sodann der chemischen Struktur der Stoffe usw., usw. —
eine lückenlos mechanische Deutung der Natur sich als unabweislich,
als einzig wahr ergeben. Sage ich »einzig wahr«, so meine ich einzig
wahr für uns Germanen; andere Menschen mögen — in Zukunft wie
in der Vergangenheit — anders denken; auch unter uns regt sich hin
und wieder eine Reaktion gegen das allzu einseitige Vorwalten rein
mechanischer Naturdeutung; doch lasse man sich nicht durch vor-

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[775/0254] Entdeckung. Das Alles sind Ergebnisse der geographischen Entdeckungen! Natürlich nicht wie Wirkungen, die auf Ursachen folgen, wohl aber wie Ereignisse, welche durch bestimmte Vorfälle veranlasst worden sind. Hätten wir Freiheit besessen, so hätte der historische Ent- wickelungsgang unseres Entdeckungswerkes ein anderer sein können, wie dies aus dem Beispiel Roger Bacon’s deutlich genug hervorgeht; doch natura sese adjuvat: alle Wege bis auf den einen der geo- graphischen Entdeckungen waren uns gewaltsam abgesperrt worden; dieser blieb offen, weil alle Kirchen den Geruch des Goldes lieben und weil selbst ein Columbus davon träumte, mit den erhofften Schätzen eine Armee gegen die Türken auszurüsten; und so wurde die geo- graphische Entdeckung die Grundlage zu allen anderen, damit zugleich das Fundament unserer allmählichen, doch noch lange nicht vollendeten geistigen Emanzipation. Leicht wäre es, den Einfluss der Entdeckung der Welt auf alle anderen Lebenszweige nachzuweisen: auf Industrie und Handel, da- durch aber zugleich auf die wirtschaftliche Gestaltung Europas, auf den Landbau, durch die Einführung neuer Nutzpflanzen (z. B. der Kartoffel), auf die Medizin (man denke an das Chinin!), auf die Politik, u. s. w. Ich überlasse das dem Leser und mache ihn nur darauf aufmerksam, dass auf allen diesen Gebieten der erwähnte Ein- fluss zunimmt, je näher wir unserem 19. Jahrhundert rücken; mit jedem Tag wird unser Leben im Gegensatz zum früheren »euro- päischen« in ausgesprochenerer Weise ein »planetarisches«. Noch ein grosses Gebiet tiefgehender und in diesem Zusammen- hang wenig beachteter Beeinflussung giebt es, das nicht unerörtert bleiben darf, und zwar um so weniger als gerade hier die unaus- bleiblichen Folgen der Entdeckungen am langsamsten sich einstellen und kaum erst in unserem Jahrhundert deutliche Gestalt zu gewinnen begannen: ich meine, den Einfluss der Entdeckungen auf die Religion. In Wahrheit hat durch die Entdeckung — erst der Sphäroidalgestalt der Erde, sodann ihrer Stellung im Kosmos, sodann der Bewegungs- gesetze, sodann der chemischen Struktur der Stoffe usw., usw. — eine lückenlos mechanische Deutung der Natur sich als unabweislich, als einzig wahr ergeben. Sage ich »einzig wahr«, so meine ich einzig wahr für uns Germanen; andere Menschen mögen — in Zukunft wie in der Vergangenheit — anders denken; auch unter uns regt sich hin und wieder eine Reaktion gegen das allzu einseitige Vorwalten rein mechanischer Naturdeutung; doch lasse man sich nicht durch vor- Der Idealismus.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 775. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/254>, abgerufen am 25.11.2024.