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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
deckungsreisen zu suchen ist. Doch viel weiter noch, bis in die
tiefste Tiefe der Weltanschauung und Religion, reichten bald die um
diesen mittleren Impuls herum sich ausdehnenden Wellen. Denn viele
Thatsachen wurden jetzt entdeckt, welche der scheinbaren Evidenz
und den Lehren des sacrosancten Aristoteles direkt widersprachen.
Die Natur wirkt immer in unerwarteter Weise; der Mensch besitzt
kein Organ, durch das er noch nicht Beobachtetes erraten könnte,
weder Gestalt noch Gesetz; es ist ihm völlig versagt. Endeckung ist
immer Offenbarung. In genialen Köpfen wirkten nun diese neuen
Offenbarungen -- diese den stummen Sphinxen entlockten Antworten
auf bisher in heiliges Dunkel gehüllte Rätsel -- mit fliegender Eile
und befähigten sie sowohl zu Anticipationen künftiger Entdeckungen wie
auch zur Grundlegung einer durchaus neuen, weder hellenischen noch
jüdischen, sondern germanischen Weltanschauung. So verkündete schon
Leonardo da Vinci -- ein Vorläufer aller echten Wissenschaft -- "la terra
e una stella
", die Erde ist ein Stern, und fügte erläuternd an anderer Stelle
hinzu: "la terra non e nel mezzo del mondo", die Erde befindet sich
nicht in der Mitte des Universums; und mit einer schier unbegreiflichen
Intuitionskraft sprach er das ewig denkwürdige Wort: "Alles Leben
ist Bewegung".1) Hundert Jahre später sah schon Giordano Bruno, der
begeisterte Visionär, unser ganzes Sonnensystem sich im unendlichen
Raume fortbewegen, die Erde mit ihrer Last an Menschen und Menschen-
geschicken nur ein Atom unter ungezählten Atomen. Da war man
freilich weit von mosaischer Kosmogonie und von dem Gott, der sich
das kleine Volk der Juden herausgewählt hatte, "auf dass er geehrt
werde", und fast ebenso weit von Aristoteles mit seiner pedantisch-
kindischen Teleologie. Es musste der Aufbau einer ganz neuen Welt-
anschauung, einer Weltanschauung, die den Bedürfnissen des ger-
manischen Gesichtskreises und der germanischen Geistesrichtung ent-
sprach, begonnen werden. In dieser Beziehung ward dann Descartes --
geboren, ehe Bruno starb -- von weltgeschichtlicher Bedeutung, indem
er, genau so wie seine Vorfahren, die kühnen Seefahrer, zugleich das
prinzipielle Zweifeln an allem Hergebrachten und die furchtlose Er-
forschung des Unbekannten forderte. Worüber später Näheres.

1) So finde ich die Stelle an verschiedenen Orten citiert, doch lautet der
einzige derartige Spruch, den ich aus dem Original kenne, etwas anders: Il moto
e causa d'ogni vita,
die Bewegung ist Ursache alles Lebens (in den von J. P. Richter
herausgegebenen Scritti letterari di Leonardo da Vinci, II, 286, Fragment Nr. 1139).
Die früher genannten Stellen sind den Nummern 865 und 858 entnommen.

Die Entstehung einer neuen Welt.
deckungsreisen zu suchen ist. Doch viel weiter noch, bis in die
tiefste Tiefe der Weltanschauung und Religion, reichten bald die um
diesen mittleren Impuls herum sich ausdehnenden Wellen. Denn viele
Thatsachen wurden jetzt entdeckt, welche der scheinbaren Evidenz
und den Lehren des sacrosancten Aristoteles direkt widersprachen.
Die Natur wirkt immer in unerwarteter Weise; der Mensch besitzt
kein Organ, durch das er noch nicht Beobachtetes erraten könnte,
weder Gestalt noch Gesetz; es ist ihm völlig versagt. Endeckung ist
immer Offenbarung. In genialen Köpfen wirkten nun diese neuen
Offenbarungen — diese den stummen Sphinxen entlockten Antworten
auf bisher in heiliges Dunkel gehüllte Rätsel — mit fliegender Eile
und befähigten sie sowohl zu Anticipationen künftiger Entdeckungen wie
auch zur Grundlegung einer durchaus neuen, weder hellenischen noch
jüdischen, sondern germanischen Weltanschauung. So verkündete schon
Leonardo da Vinci — ein Vorläufer aller echten Wissenschaft — »la terra
è una stella
«, die Erde ist ein Stern, und fügte erläuternd an anderer Stelle
hinzu: »la terra non è nel mezzo del mondo«, die Erde befindet sich
nicht in der Mitte des Universums; und mit einer schier unbegreiflichen
Intuitionskraft sprach er das ewig denkwürdige Wort: »Alles Leben
ist Bewegung«.1) Hundert Jahre später sah schon Giordano Bruno, der
begeisterte Visionär, unser ganzes Sonnensystem sich im unendlichen
Raume fortbewegen, die Erde mit ihrer Last an Menschen und Menschen-
geschicken nur ein Atom unter ungezählten Atomen. Da war man
freilich weit von mosaischer Kosmogonie und von dem Gott, der sich
das kleine Volk der Juden herausgewählt hatte, »auf dass er geehrt
werde«, und fast ebenso weit von Aristoteles mit seiner pedantisch-
kindischen Teleologie. Es musste der Aufbau einer ganz neuen Welt-
anschauung, einer Weltanschauung, die den Bedürfnissen des ger-
manischen Gesichtskreises und der germanischen Geistesrichtung ent-
sprach, begonnen werden. In dieser Beziehung ward dann Descartes —
geboren, ehe Bruno starb — von weltgeschichtlicher Bedeutung, indem
er, genau so wie seine Vorfahren, die kühnen Seefahrer, zugleich das
prinzipielle Zweifeln an allem Hergebrachten und die furchtlose Er-
forschung des Unbekannten forderte. Worüber später Näheres.

1) So finde ich die Stelle an verschiedenen Orten citiert, doch lautet der
einzige derartige Spruch, den ich aus dem Original kenne, etwas anders: Il moto
è causa d’ogni vita,
die Bewegung ist Ursache alles Lebens (in den von J. P. Richter
herausgegebenen Scritti letterari di Leonardo da Vinci, II, 286, Fragment Nr. 1139).
Die früher genannten Stellen sind den Nummern 865 und 858 entnommen.
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[774/0253] Die Entstehung einer neuen Welt. deckungsreisen zu suchen ist. Doch viel weiter noch, bis in die tiefste Tiefe der Weltanschauung und Religion, reichten bald die um diesen mittleren Impuls herum sich ausdehnenden Wellen. Denn viele Thatsachen wurden jetzt entdeckt, welche der scheinbaren Evidenz und den Lehren des sacrosancten Aristoteles direkt widersprachen. Die Natur wirkt immer in unerwarteter Weise; der Mensch besitzt kein Organ, durch das er noch nicht Beobachtetes erraten könnte, weder Gestalt noch Gesetz; es ist ihm völlig versagt. Endeckung ist immer Offenbarung. In genialen Köpfen wirkten nun diese neuen Offenbarungen — diese den stummen Sphinxen entlockten Antworten auf bisher in heiliges Dunkel gehüllte Rätsel — mit fliegender Eile und befähigten sie sowohl zu Anticipationen künftiger Entdeckungen wie auch zur Grundlegung einer durchaus neuen, weder hellenischen noch jüdischen, sondern germanischen Weltanschauung. So verkündete schon Leonardo da Vinci — ein Vorläufer aller echten Wissenschaft — »la terra è una stella«, die Erde ist ein Stern, und fügte erläuternd an anderer Stelle hinzu: »la terra non è nel mezzo del mondo«, die Erde befindet sich nicht in der Mitte des Universums; und mit einer schier unbegreiflichen Intuitionskraft sprach er das ewig denkwürdige Wort: »Alles Leben ist Bewegung«. 1) Hundert Jahre später sah schon Giordano Bruno, der begeisterte Visionär, unser ganzes Sonnensystem sich im unendlichen Raume fortbewegen, die Erde mit ihrer Last an Menschen und Menschen- geschicken nur ein Atom unter ungezählten Atomen. Da war man freilich weit von mosaischer Kosmogonie und von dem Gott, der sich das kleine Volk der Juden herausgewählt hatte, »auf dass er geehrt werde«, und fast ebenso weit von Aristoteles mit seiner pedantisch- kindischen Teleologie. Es musste der Aufbau einer ganz neuen Welt- anschauung, einer Weltanschauung, die den Bedürfnissen des ger- manischen Gesichtskreises und der germanischen Geistesrichtung ent- sprach, begonnen werden. In dieser Beziehung ward dann Descartes — geboren, ehe Bruno starb — von weltgeschichtlicher Bedeutung, indem er, genau so wie seine Vorfahren, die kühnen Seefahrer, zugleich das prinzipielle Zweifeln an allem Hergebrachten und die furchtlose Er- forschung des Unbekannten forderte. Worüber später Näheres. 1) So finde ich die Stelle an verschiedenen Orten citiert, doch lautet der einzige derartige Spruch, den ich aus dem Original kenne, etwas anders: Il moto è causa d’ogni vita, die Bewegung ist Ursache alles Lebens (in den von J. P. Richter herausgegebenen Scritti letterari di Leonardo da Vinci, II, 286, Fragment Nr. 1139). Die früher genannten Stellen sind den Nummern 865 und 858 entnommen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 774. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/253>, abgerufen am 25.11.2024.