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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
gesagt, unsere nahe Verwandtschaft mit ihnen vermuten lässt. Gerade
deswegen ist aber hier eine vergleichende Unterscheidung von grösstem
Werte. So dürfen wir z. B. gewiss behaupten, dass bei den Griechen
Kultur das vorwiegende Element war: sie besitzen die vollendetste und
originellste Dichtung (aus der ihre ganze übrige Kunst hervorging) zu
einer Zeit als ihre Civilisation noch den Stempel des zwar Pracht-
liebenden, Schönheitsahnenden, doch Unselbständigen und Barbarischen
an sich trägt und wo ihr Wissensdurst noch kaum erwacht ist. Später
nimmt dann bei ihnen gerade die Wissenschaft plötzlich einen grossen,
ewig glorreichen Anlauf, und zwar unter enger, glücklicher Anlehnung
an hohe Weltanschauung (wieder jene Korrelation!). Im Verhältnis
zu solchen unvergleichlichen Leistungen bleibt bei den Hellenen die
Civilisation entschieden zurück. Zwar war Athen eine Fabrikstadt
(wenn dieser Ausdruck keusche Ohren nicht verletzt), und der Welt
wäre ebenso wenig ein Thales wie ein Plato geschenkt worden, wenn
die Hellenen sich nicht als Ökonomen und unternehmende, schlaue
Handelsherren, Reichtum und damit Musse erworben hätten; es sind
durch und durch praktische Leute; doch zeigten sie in der Politik --
ohne welche keine Civilisation Dauer besitzt -- keine ausserordentliche
Begabung, wie die Römer; Recht und Staat waren bei ihnen ein
Spielball in den Händen der Ehrgeizigen; auch ist das Symptom der
direkt anticivilisatorischen Massnahmen des dauerhaftesten griechischen
Staates, Sparta, nicht zu übersehen. Bei uns Germanen liegen die
Dinge offenbar wesentlich anders. Zwar ist auch unsere Politik bis
zum heutigen Tage eigentümlich schwerfällig, roh, ungeschickt geblieben,
dennoch bewährten wir uns als die unvergleichlichsten Staatenbildner
der Welt -- was vermuten lässt, dass hier, wie bei so manchen anderen
Dingen, uns mehr die aufgezwungene Nachahmung im Wege stand
als fehlende Anlage. "Wer kommt früh zu dem Glücke, sich seines
eigenen Selbsts ohne fremde Formen in reinem Zusammenhang be-
wusst zu sein?" seufzt Goethe;1) nicht einmal die Hellenen, wir aber
noch viel, viel weniger. Besser, weil unabhängiger, entwickelten sich
unsere Anlagen auf dem ganzen wirtschaftlichen Gebiete (Handel, Ge-
werbe, am wenigsten vielleicht Landbau) zu nie gekannter Blüte; eben-
so die schnell folgende Industrie. Was sind Phönizier und Karthagener
mit ihren elenden Ausbeutungs-Faktoreien und Karavanen gegen einen
lombardischen oder rheinischen Städtebund, in welchem Klugheit,

1) Wilhelm Meister's Lehrjahre, Buch VI.

Die Entstehung einer neuen Welt.
gesagt, unsere nahe Verwandtschaft mit ihnen vermuten lässt. Gerade
deswegen ist aber hier eine vergleichende Unterscheidung von grösstem
Werte. So dürfen wir z. B. gewiss behaupten, dass bei den Griechen
Kultur das vorwiegende Element war: sie besitzen die vollendetste und
originellste Dichtung (aus der ihre ganze übrige Kunst hervorging) zu
einer Zeit als ihre Civilisation noch den Stempel des zwar Pracht-
liebenden, Schönheitsahnenden, doch Unselbständigen und Barbarischen
an sich trägt und wo ihr Wissensdurst noch kaum erwacht ist. Später
nimmt dann bei ihnen gerade die Wissenschaft plötzlich einen grossen,
ewig glorreichen Anlauf, und zwar unter enger, glücklicher Anlehnung
an hohe Weltanschauung (wieder jene Korrelation!). Im Verhältnis
zu solchen unvergleichlichen Leistungen bleibt bei den Hellenen die
Civilisation entschieden zurück. Zwar war Athen eine Fabrikstadt
(wenn dieser Ausdruck keusche Ohren nicht verletzt), und der Welt
wäre ebenso wenig ein Thales wie ein Plato geschenkt worden, wenn
die Hellenen sich nicht als Ökonomen und unternehmende, schlaue
Handelsherren, Reichtum und damit Musse erworben hätten; es sind
durch und durch praktische Leute; doch zeigten sie in der Politik —
ohne welche keine Civilisation Dauer besitzt — keine ausserordentliche
Begabung, wie die Römer; Recht und Staat waren bei ihnen ein
Spielball in den Händen der Ehrgeizigen; auch ist das Symptom der
direkt anticivilisatorischen Massnahmen des dauerhaftesten griechischen
Staates, Sparta, nicht zu übersehen. Bei uns Germanen liegen die
Dinge offenbar wesentlich anders. Zwar ist auch unsere Politik bis
zum heutigen Tage eigentümlich schwerfällig, roh, ungeschickt geblieben,
dennoch bewährten wir uns als die unvergleichlichsten Staatenbildner
der Welt — was vermuten lässt, dass hier, wie bei so manchen anderen
Dingen, uns mehr die aufgezwungene Nachahmung im Wege stand
als fehlende Anlage. »Wer kommt früh zu dem Glücke, sich seines
eigenen Selbsts ohne fremde Formen in reinem Zusammenhang be-
wusst zu sein?« seufzt Goethe;1) nicht einmal die Hellenen, wir aber
noch viel, viel weniger. Besser, weil unabhängiger, entwickelten sich
unsere Anlagen auf dem ganzen wirtschaftlichen Gebiete (Handel, Ge-
werbe, am wenigsten vielleicht Landbau) zu nie gekannter Blüte; eben-
so die schnell folgende Industrie. Was sind Phönizier und Karthagener
mit ihren elenden Ausbeutungs-Faktoreien und Karavanen gegen einen
lombardischen oder rheinischen Städtebund, in welchem Klugheit,

1) Wilhelm Meister’s Lehrjahre, Buch VI.
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[748/0227] Die Entstehung einer neuen Welt. gesagt, unsere nahe Verwandtschaft mit ihnen vermuten lässt. Gerade deswegen ist aber hier eine vergleichende Unterscheidung von grösstem Werte. So dürfen wir z. B. gewiss behaupten, dass bei den Griechen Kultur das vorwiegende Element war: sie besitzen die vollendetste und originellste Dichtung (aus der ihre ganze übrige Kunst hervorging) zu einer Zeit als ihre Civilisation noch den Stempel des zwar Pracht- liebenden, Schönheitsahnenden, doch Unselbständigen und Barbarischen an sich trägt und wo ihr Wissensdurst noch kaum erwacht ist. Später nimmt dann bei ihnen gerade die Wissenschaft plötzlich einen grossen, ewig glorreichen Anlauf, und zwar unter enger, glücklicher Anlehnung an hohe Weltanschauung (wieder jene Korrelation!). Im Verhältnis zu solchen unvergleichlichen Leistungen bleibt bei den Hellenen die Civilisation entschieden zurück. Zwar war Athen eine Fabrikstadt (wenn dieser Ausdruck keusche Ohren nicht verletzt), und der Welt wäre ebenso wenig ein Thales wie ein Plato geschenkt worden, wenn die Hellenen sich nicht als Ökonomen und unternehmende, schlaue Handelsherren, Reichtum und damit Musse erworben hätten; es sind durch und durch praktische Leute; doch zeigten sie in der Politik — ohne welche keine Civilisation Dauer besitzt — keine ausserordentliche Begabung, wie die Römer; Recht und Staat waren bei ihnen ein Spielball in den Händen der Ehrgeizigen; auch ist das Symptom der direkt anticivilisatorischen Massnahmen des dauerhaftesten griechischen Staates, Sparta, nicht zu übersehen. Bei uns Germanen liegen die Dinge offenbar wesentlich anders. Zwar ist auch unsere Politik bis zum heutigen Tage eigentümlich schwerfällig, roh, ungeschickt geblieben, dennoch bewährten wir uns als die unvergleichlichsten Staatenbildner der Welt — was vermuten lässt, dass hier, wie bei so manchen anderen Dingen, uns mehr die aufgezwungene Nachahmung im Wege stand als fehlende Anlage. »Wer kommt früh zu dem Glücke, sich seines eigenen Selbsts ohne fremde Formen in reinem Zusammenhang be- wusst zu sein?« seufzt Goethe; 1) nicht einmal die Hellenen, wir aber noch viel, viel weniger. Besser, weil unabhängiger, entwickelten sich unsere Anlagen auf dem ganzen wirtschaftlichen Gebiete (Handel, Ge- werbe, am wenigsten vielleicht Landbau) zu nie gekannter Blüte; eben- so die schnell folgende Industrie. Was sind Phönizier und Karthagener mit ihren elenden Ausbeutungs-Faktoreien und Karavanen gegen einen lombardischen oder rheinischen Städtebund, in welchem Klugheit, 1) Wilhelm Meister’s Lehrjahre, Buch VI.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/227>, abgerufen am 24.11.2024.