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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Geschichtlicher Überblick.
einer durchaus praktischen, phantasiebaren, redlichen Religion geführt,
bei den Phöniziern zu Handel und Götzendienst: bei ihren Nachbarn,
den Hellenen, führten genau dieselben Anregungen zu Wissenschaft
und Kultur, ohne dass die Civilisation in ihren berechtigten Anforde-
rungen zu kurz gekommen wäre. Einzig der Hellene besitzt diese
Allseitigkeit, diese vollendete Plasticität, die in seinen Bildwerken künst-
lerischen Ausdruck fand; daher verdient er Bewunderung und Ver-
ehrung wie kein anderer Mensch, und er allein dürfte als Muster --
nicht zur Nachahmung aber zur Aneiferung -- hingehalten werden.
Der Römer, den wir zugleich mit dem Hellenen in unseren Schulen
nennen, ist fast noch einseitiger entwickelt als der Inder: hatte bei
diesem die Kultur nach und nach alle Lebenskräfte verschlungen, so
unterdrückte bei dem Römer die politische Sorge -- das Werk der
Rechtsbildung und das Werk der Staatserhaltung -- von Anfang an
jede andere Anlage. Die Erfüllung seiner civilisatorischen Aufgabe
nimmt ihn so ganz in Anspruch, dass er weder für das Wissen noch
für die Kultur Kräfte übrig hat.1) Im Laufe seiner gesamten Geschichte
hat der Römer nichts entdeckt, nichts erfunden; und auch hier wieder
sehen wir das vorhin genannte geheimnisvolle Gesetz der Korrelation
zwischen Wissen und Kultur am Werke, denn als er Herr der Welt
geworden und die Öde seines kulturbaren Lebens zu empfinden be-
gann, da war es zu spät: die sprudelnde Quelle der Originalität, d. h.
des freischöpferischen Könnens war für ihn gänzlich verschüttet.
Schwer genug drückt noch heute sein gewaltiges, einseitig politisches
Werk auf uns und verleitet uns, den politischen Dingen eine vor-
wiegende und selbständig gestaltende Bedeutung beizulegen, die sie
gar nicht besitzen und nur zum Nachteil des Lebens sich anmassen.

Auf diesem kleinen Umweg über China und Sumerien bis nachDer Germane.
Rom werden wir, glaube ich, zu einer ziemlich deutlichen Vorstellung
unserer eigenen Persönlichkeit und ihrer notwendigen Entwickelung
gelangt sein. Denn wir dürfen es ungescheut aussprechen: der Ger-
mane ist der einzige Mensch, der sich mit dem Hellenen vergleichen
darf. Auch hier ist das Auffallende und das spezifisch Unterscheidende
die gleichzeitige und gleichwertige Ausbildung von Wissen, Civilisation
und Kultur. Das allseitig Umfassende unserer Anlagen unterscheidet
uns von allen zeitgenössischen und von allen früheren Menschenarten --
mit alleiniger Ausnahme der Hellenen; eine Thatsache, die, nebenbei

1) Siehe S. 70--71.
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Geschichtlicher Überblick.
einer durchaus praktischen, phantasiebaren, redlichen Religion geführt,
bei den Phöniziern zu Handel und Götzendienst: bei ihren Nachbarn,
den Hellenen, führten genau dieselben Anregungen zu Wissenschaft
und Kultur, ohne dass die Civilisation in ihren berechtigten Anforde-
rungen zu kurz gekommen wäre. Einzig der Hellene besitzt diese
Allseitigkeit, diese vollendete Plasticität, die in seinen Bildwerken künst-
lerischen Ausdruck fand; daher verdient er Bewunderung und Ver-
ehrung wie kein anderer Mensch, und er allein dürfte als Muster —
nicht zur Nachahmung aber zur Aneiferung — hingehalten werden.
Der Römer, den wir zugleich mit dem Hellenen in unseren Schulen
nennen, ist fast noch einseitiger entwickelt als der Inder: hatte bei
diesem die Kultur nach und nach alle Lebenskräfte verschlungen, so
unterdrückte bei dem Römer die politische Sorge — das Werk der
Rechtsbildung und das Werk der Staatserhaltung — von Anfang an
jede andere Anlage. Die Erfüllung seiner civilisatorischen Aufgabe
nimmt ihn so ganz in Anspruch, dass er weder für das Wissen noch
für die Kultur Kräfte übrig hat.1) Im Laufe seiner gesamten Geschichte
hat der Römer nichts entdeckt, nichts erfunden; und auch hier wieder
sehen wir das vorhin genannte geheimnisvolle Gesetz der Korrelation
zwischen Wissen und Kultur am Werke, denn als er Herr der Welt
geworden und die Öde seines kulturbaren Lebens zu empfinden be-
gann, da war es zu spät: die sprudelnde Quelle der Originalität, d. h.
des freischöpferischen Könnens war für ihn gänzlich verschüttet.
Schwer genug drückt noch heute sein gewaltiges, einseitig politisches
Werk auf uns und verleitet uns, den politischen Dingen eine vor-
wiegende und selbständig gestaltende Bedeutung beizulegen, die sie
gar nicht besitzen und nur zum Nachteil des Lebens sich anmassen.

Auf diesem kleinen Umweg über China und Sumerien bis nachDer Germane.
Rom werden wir, glaube ich, zu einer ziemlich deutlichen Vorstellung
unserer eigenen Persönlichkeit und ihrer notwendigen Entwickelung
gelangt sein. Denn wir dürfen es ungescheut aussprechen: der Ger-
mane ist der einzige Mensch, der sich mit dem Hellenen vergleichen
darf. Auch hier ist das Auffallende und das spezifisch Unterscheidende
die gleichzeitige und gleichwertige Ausbildung von Wissen, Civilisation
und Kultur. Das allseitig Umfassende unserer Anlagen unterscheidet
uns von allen zeitgenössischen und von allen früheren Menschenarten —
mit alleiniger Ausnahme der Hellenen; eine Thatsache, die, nebenbei

1) Siehe S. 70—71.
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[747/0226] Geschichtlicher Überblick. einer durchaus praktischen, phantasiebaren, redlichen Religion geführt, bei den Phöniziern zu Handel und Götzendienst: bei ihren Nachbarn, den Hellenen, führten genau dieselben Anregungen zu Wissenschaft und Kultur, ohne dass die Civilisation in ihren berechtigten Anforde- rungen zu kurz gekommen wäre. Einzig der Hellene besitzt diese Allseitigkeit, diese vollendete Plasticität, die in seinen Bildwerken künst- lerischen Ausdruck fand; daher verdient er Bewunderung und Ver- ehrung wie kein anderer Mensch, und er allein dürfte als Muster — nicht zur Nachahmung aber zur Aneiferung — hingehalten werden. Der Römer, den wir zugleich mit dem Hellenen in unseren Schulen nennen, ist fast noch einseitiger entwickelt als der Inder: hatte bei diesem die Kultur nach und nach alle Lebenskräfte verschlungen, so unterdrückte bei dem Römer die politische Sorge — das Werk der Rechtsbildung und das Werk der Staatserhaltung — von Anfang an jede andere Anlage. Die Erfüllung seiner civilisatorischen Aufgabe nimmt ihn so ganz in Anspruch, dass er weder für das Wissen noch für die Kultur Kräfte übrig hat. 1) Im Laufe seiner gesamten Geschichte hat der Römer nichts entdeckt, nichts erfunden; und auch hier wieder sehen wir das vorhin genannte geheimnisvolle Gesetz der Korrelation zwischen Wissen und Kultur am Werke, denn als er Herr der Welt geworden und die Öde seines kulturbaren Lebens zu empfinden be- gann, da war es zu spät: die sprudelnde Quelle der Originalität, d. h. des freischöpferischen Könnens war für ihn gänzlich verschüttet. Schwer genug drückt noch heute sein gewaltiges, einseitig politisches Werk auf uns und verleitet uns, den politischen Dingen eine vor- wiegende und selbständig gestaltende Bedeutung beizulegen, die sie gar nicht besitzen und nur zum Nachteil des Lebens sich anmassen. Auf diesem kleinen Umweg über China und Sumerien bis nach Rom werden wir, glaube ich, zu einer ziemlich deutlichen Vorstellung unserer eigenen Persönlichkeit und ihrer notwendigen Entwickelung gelangt sein. Denn wir dürfen es ungescheut aussprechen: der Ger- mane ist der einzige Mensch, der sich mit dem Hellenen vergleichen darf. Auch hier ist das Auffallende und das spezifisch Unterscheidende die gleichzeitige und gleichwertige Ausbildung von Wissen, Civilisation und Kultur. Das allseitig Umfassende unserer Anlagen unterscheidet uns von allen zeitgenössischen und von allen früheren Menschenarten — mit alleiniger Ausnahme der Hellenen; eine Thatsache, die, nebenbei Der Germane. 1) Siehe S. 70—71. 48*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 747. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/226>, abgerufen am 28.11.2024.