Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Der Kampf. Aquin: das sagt Alles! Und inzwischen hatte doch Immanuel Kant,der Luther der Philosophie, der Zerstörer des Scheinwissens, der Ver- nichter aller Systeme gelebt und hatte uns auf "die Grenzen unseres Denkvermögens" aufmerksam gemacht und uns gewarnt, "uns niemals mit der spekulativen Vernunft über die Erfahrungsgrenze hinauszu- wagen"; dann aber, nachdem er uns äusserlich so scharf und bestimmt begrenzt, hatte er die Thore zu der inneren Welt des Grenzenlosen wie kein früherer europäischer Philosoph weit geöffnet, die Heimat des freien Mannes erschliessend.1) grundsätzliche Begrenzung. Diese flüchtigen Andeutungen sollen nur als Fingerzeig dienen, 1) Näheres über Thomas von Aquin und Kant im Abschnitt "Welt-
anschauung" des folgenden Kapitels. Der Vollständigkeit halber bleibe es nicht unerwähnt, dass wir neben dem protestantischen, auch den jüdischen Thomas von Aquin erlebt haben, den Universalsystematiker Spinoza, den "Erneuerer der alten hebräischen Kabbala", d. h. der magischen Geheimlehre, wie ihn Leibniz nennt. Mit jenen anderen Beiden hat Spinoza auch das gemeinsam, dass er weder die Mathematik (sein Fach) noch die Wissenschaft (seine Liebhaberei) um einen einzigen produktiven Gedanken bereichert hat. Der Kampf. Aquin: das sagt Alles! Und inzwischen hatte doch Immanuel Kant,der Luther der Philosophie, der Zerstörer des Scheinwissens, der Ver- nichter aller Systeme gelebt und hatte uns auf »die Grenzen unseres Denkvermögens« aufmerksam gemacht und uns gewarnt, »uns niemals mit der spekulativen Vernunft über die Erfahrungsgrenze hinauszu- wagen«; dann aber, nachdem er uns äusserlich so scharf und bestimmt begrenzt, hatte er die Thore zu der inneren Welt des Grenzenlosen wie kein früherer europäischer Philosoph weit geöffnet, die Heimat des freien Mannes erschliessend.1) grundsätzliche Begrenzung. Diese flüchtigen Andeutungen sollen nur als Fingerzeig dienen, 1) Näheres über Thomas von Aquin und Kant im Abschnitt »Welt-
anschauung« des folgenden Kapitels. Der Vollständigkeit halber bleibe es nicht unerwähnt, dass wir neben dem protestantischen, auch den jüdischen Thomas von Aquin erlebt haben, den Universalsystematiker Spinoza, den »Erneuerer der alten hebräischen Kabbala«, d. h. der magischen Geheimlehre, wie ihn Leibniz nennt. Mit jenen anderen Beiden hat Spinoza auch das gemeinsam, dass er weder die Mathematik (sein Fach) noch die Wissenschaft (seine Liebhaberei) um einen einzigen produktiven Gedanken bereichert hat. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0163" n="684"/><fw place="top" type="header">Der Kampf.</fw><lb/> Aquin: das sagt Alles! Und inzwischen hatte doch Immanuel Kant,<lb/> der Luther der Philosophie, der Zerstörer des Scheinwissens, der Ver-<lb/> nichter aller Systeme gelebt und hatte uns auf »die <hi rendition="#g">Grenzen</hi> unseres<lb/> Denkvermögens« aufmerksam gemacht und uns gewarnt, »uns niemals<lb/> mit der spekulativen Vernunft über die Erfahrungsgrenze hinauszu-<lb/> wagen«; dann aber, nachdem er uns äusserlich so scharf und bestimmt<lb/> begrenzt, hatte er die Thore zu der inneren Welt des Grenzenlosen<lb/> wie kein früherer europäischer Philosoph weit geöffnet, die Heimat<lb/> des freien Mannes erschliessend.<note place="foot" n="1)">Näheres über Thomas von Aquin und Kant im Abschnitt »Welt-<lb/> anschauung« des folgenden Kapitels. Der Vollständigkeit halber bleibe es nicht<lb/> unerwähnt, dass wir neben dem protestantischen, auch den jüdischen Thomas von<lb/> Aquin erlebt haben, den Universalsystematiker Spinoza, den »Erneuerer der alten<lb/> hebräischen Kabbala«, d. h. der magischen Geheimlehre, wie ihn Leibniz nennt.<lb/> Mit jenen anderen Beiden hat Spinoza auch das gemeinsam, dass er weder die<lb/> Mathematik (sein Fach) noch die Wissenschaft (seine Liebhaberei) um einen einzigen<lb/> produktiven Gedanken bereichert hat.</note></p><lb/> <note place="left">Die<lb/> grundsätzliche<lb/> Begrenzung.</note> <p>Diese flüchtigen Andeutungen sollen nur als Fingerzeig dienen,<lb/> auf wie vielen Gebieten der Kampf zwischen Individualismus und Anti-<lb/> individualismus, Nationalismus und Antinationalismus (Internationalismus<lb/> ist ein anderes Wort für dasselbe Ding), Freiheit und Unfreiheit noch<lb/> heute wütet und wohl ewig wüten wird. Erst im zweiten Band werde<lb/> ich näher auf die hier kaum berührten Themata (insofern sie die Gegen-<lb/> wart betreffen) eingehen können. Doch möchte ich nicht, dass man mich<lb/> inzwischen für einen Schwarzseher hielte. Selten hat sich das Rassen-<lb/> bewusstsein und das Nationalgefühl und die argwöhnische Wahrung<lb/> der Rechte der Persönlichkeit so kräftig geregt wie gerade in unseren<lb/> Tagen: durch die Völker weht am Schlusse unseres Jahrhunderts eine<lb/> Stimmung, die an den dumpfen Schrei des gehetzten Wildes erinnert,<lb/> wenn das edle Tier sich plötzlich umwendet, entschlossen, für sein<lb/> Leben zu kämpfen. Und hier bedeutet der Entschluss den Sieg.<lb/> Denn die grosse Anziehungskraft alles Universalistischen liegt in der<lb/> menschlichen Schwäche; der starke Mann wendet sich ab davon und<lb/> findet im eigenen Busen, in der eigenen Familie, im eigenen Volk<lb/> ein Grenzenloses, welches er für den gesamten Kosmos mit seinen<lb/> ungezählten Sternen nicht hingäbe. Goethe, dem ich den Leitfaden<lb/> für dieses Kapitel entnahm, hat an einer anderen Stelle sehr schön<lb/> ausgesprochen, inwiefern das Unbegrenzte, das katholisch Absolute<lb/> einer trägen Gemütsart entspricht:</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [684/0163]
Der Kampf.
Aquin: das sagt Alles! Und inzwischen hatte doch Immanuel Kant,
der Luther der Philosophie, der Zerstörer des Scheinwissens, der Ver-
nichter aller Systeme gelebt und hatte uns auf »die Grenzen unseres
Denkvermögens« aufmerksam gemacht und uns gewarnt, »uns niemals
mit der spekulativen Vernunft über die Erfahrungsgrenze hinauszu-
wagen«; dann aber, nachdem er uns äusserlich so scharf und bestimmt
begrenzt, hatte er die Thore zu der inneren Welt des Grenzenlosen
wie kein früherer europäischer Philosoph weit geöffnet, die Heimat
des freien Mannes erschliessend. 1)
Diese flüchtigen Andeutungen sollen nur als Fingerzeig dienen,
auf wie vielen Gebieten der Kampf zwischen Individualismus und Anti-
individualismus, Nationalismus und Antinationalismus (Internationalismus
ist ein anderes Wort für dasselbe Ding), Freiheit und Unfreiheit noch
heute wütet und wohl ewig wüten wird. Erst im zweiten Band werde
ich näher auf die hier kaum berührten Themata (insofern sie die Gegen-
wart betreffen) eingehen können. Doch möchte ich nicht, dass man mich
inzwischen für einen Schwarzseher hielte. Selten hat sich das Rassen-
bewusstsein und das Nationalgefühl und die argwöhnische Wahrung
der Rechte der Persönlichkeit so kräftig geregt wie gerade in unseren
Tagen: durch die Völker weht am Schlusse unseres Jahrhunderts eine
Stimmung, die an den dumpfen Schrei des gehetzten Wildes erinnert,
wenn das edle Tier sich plötzlich umwendet, entschlossen, für sein
Leben zu kämpfen. Und hier bedeutet der Entschluss den Sieg.
Denn die grosse Anziehungskraft alles Universalistischen liegt in der
menschlichen Schwäche; der starke Mann wendet sich ab davon und
findet im eigenen Busen, in der eigenen Familie, im eigenen Volk
ein Grenzenloses, welches er für den gesamten Kosmos mit seinen
ungezählten Sternen nicht hingäbe. Goethe, dem ich den Leitfaden
für dieses Kapitel entnahm, hat an einer anderen Stelle sehr schön
ausgesprochen, inwiefern das Unbegrenzte, das katholisch Absolute
einer trägen Gemütsart entspricht:
1) Näheres über Thomas von Aquin und Kant im Abschnitt »Welt-
anschauung« des folgenden Kapitels. Der Vollständigkeit halber bleibe es nicht
unerwähnt, dass wir neben dem protestantischen, auch den jüdischen Thomas von
Aquin erlebt haben, den Universalsystematiker Spinoza, den »Erneuerer der alten
hebräischen Kabbala«, d. h. der magischen Geheimlehre, wie ihn Leibniz nennt.
Mit jenen anderen Beiden hat Spinoza auch das gemeinsam, dass er weder die
Mathematik (sein Fach) noch die Wissenschaft (seine Liebhaberei) um einen einzigen
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