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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Staat.
druck."1) Wie der Stagirit, weiss er über alles Bescheid, von der Natur
der Gottheit an bis zu der Natur der irdischen Körper und bis zu den
Eigenschaften des wiederauferstandenen Leibes; als Christ weiss er
jedoch viel mehr als jener, denn er besitzt die Offenbarung als Grund-
lage. Nun wird gewiss kein Denker geneigt sein, die Leistung eines
Thomas von Aquin geringzuschätzen; es wäre Selbstüberhebung, wollte
ich es wagen ihn zu loben, doch darf ich gestehen, dass ich mit
staunender Bewunderung Berichte über sein Gesamtsystem gelesen
und mich in einzelne seiner Schriften vertieft habe. Aber was ist
für uns praktische Menschen -- namentlich in dem Zusammenhang
dieses Kapitels -- das Entscheidende? Folgendes. Thomas baut sein
"wie kein anderes allseitiges" System auf zwei Voraussetzungen auf:
die Philosophie muss sich bedingungslos unterwerfen und ancilla
ecclesiae,
d. h. eine Magd der Kirche werden; ausserdem muss sie
sich zur ancilla Aristotelis, zur Magd des Aristoteles erniedrigen. Man
sieht, es ist immer dasselbe Prinzip: lass' dir Hände und Füsse fesseln,
und du sollst Wunder erleben! Hänge dir bestimmte Dogmen vor
die Augen (welche durch Majoritätsbeschluss von Bischöfen, die viel-
fach nicht lesen und schreiben konnten, in den Jahrhunderten der
tiefsten Menschenschmach dekretiert wurden) und setze ausserdem
voraus, dass die ersten tastenden Versuche eines genialen aber er-
wiesenermassen sehr einseitigen hellenischen Systematikers die ewige,
absolute, ganze Wahrheit zum Ausdruck bringen, und ich schenke
dir ein universelles System! Das ist ein Attentat, ein gefährliches
Attentat auf die innerste Freiheit des Menschen! Anstatt dass, wie
Goethe es wollte, er innerlich grenzenlos wäre, sind ihm nun von
fremder Hand zwei enge Reifen um die Seele und um das Hirn
geschmiedet: das ist der Preis, den wir Menschen für "universelles
Wissen" zu bezahlen haben. Übrigens war schon lange ehe Leo XIII.
seine Encyklika erliess, der protestantischen Kirche ein auf ähnlichen
Prinzipien ruhendes universelles System entwachsen, dasjenige von
Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Ein protestantischer Thomas von

1) Fr. Abert (Professor der Theologie an der Universität Würzburg): Sancti
Thomae Aquinatis compendium theologiae,
1896, S. 6. Der angeführte Satz ist die
panegyrische Paraphrase eines ganz anders gemeinten Urteils aus alter Zeit. Bei
aller Anerkennung für die Leistung des Thomas ist seine Gleichstellung mit dem
bahnbrechenden Ordner und Gestalter Aristoteles (S. 82) ein ungeheuerlicher
Urteilsfehler, wenn nicht eine verdammenswerte Irreführung.
44 a *

Staat.
druck.«1) Wie der Stagirit, weiss er über alles Bescheid, von der Natur
der Gottheit an bis zu der Natur der irdischen Körper und bis zu den
Eigenschaften des wiederauferstandenen Leibes; als Christ weiss er
jedoch viel mehr als jener, denn er besitzt die Offenbarung als Grund-
lage. Nun wird gewiss kein Denker geneigt sein, die Leistung eines
Thomas von Aquin geringzuschätzen; es wäre Selbstüberhebung, wollte
ich es wagen ihn zu loben, doch darf ich gestehen, dass ich mit
staunender Bewunderung Berichte über sein Gesamtsystem gelesen
und mich in einzelne seiner Schriften vertieft habe. Aber was ist
für uns praktische Menschen — namentlich in dem Zusammenhang
dieses Kapitels — das Entscheidende? Folgendes. Thomas baut sein
»wie kein anderes allseitiges« System auf zwei Voraussetzungen auf:
die Philosophie muss sich bedingungslos unterwerfen und ancilla
ecclesiae,
d. h. eine Magd der Kirche werden; ausserdem muss sie
sich zur ancilla Aristotelis, zur Magd des Aristoteles erniedrigen. Man
sieht, es ist immer dasselbe Prinzip: lass’ dir Hände und Füsse fesseln,
und du sollst Wunder erleben! Hänge dir bestimmte Dogmen vor
die Augen (welche durch Majoritätsbeschluss von Bischöfen, die viel-
fach nicht lesen und schreiben konnten, in den Jahrhunderten der
tiefsten Menschenschmach dekretiert wurden) und setze ausserdem
voraus, dass die ersten tastenden Versuche eines genialen aber er-
wiesenermassen sehr einseitigen hellenischen Systematikers die ewige,
absolute, ganze Wahrheit zum Ausdruck bringen, und ich schenke
dir ein universelles System! Das ist ein Attentat, ein gefährliches
Attentat auf die innerste Freiheit des Menschen! Anstatt dass, wie
Goethe es wollte, er innerlich grenzenlos wäre, sind ihm nun von
fremder Hand zwei enge Reifen um die Seele und um das Hirn
geschmiedet: das ist der Preis, den wir Menschen für »universelles
Wissen« zu bezahlen haben. Übrigens war schon lange ehe Leo XIII.
seine Encyklika erliess, der protestantischen Kirche ein auf ähnlichen
Prinzipien ruhendes universelles System entwachsen, dasjenige von
Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Ein protestantischer Thomas von

1) Fr. Abert (Professor der Theologie an der Universität Würzburg): Sancti
Thomae Aquinatis compendium theologiae,
1896, S. 6. Der angeführte Satz ist die
panegyrische Paraphrase eines ganz anders gemeinten Urteils aus alter Zeit. Bei
aller Anerkennung für die Leistung des Thomas ist seine Gleichstellung mit dem
bahnbrechenden Ordner und Gestalter Aristoteles (S. 82) ein ungeheuerlicher
Urteilsfehler, wenn nicht eine verdammenswerte Irreführung.
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[683/0162] Staat. druck.« 1) Wie der Stagirit, weiss er über alles Bescheid, von der Natur der Gottheit an bis zu der Natur der irdischen Körper und bis zu den Eigenschaften des wiederauferstandenen Leibes; als Christ weiss er jedoch viel mehr als jener, denn er besitzt die Offenbarung als Grund- lage. Nun wird gewiss kein Denker geneigt sein, die Leistung eines Thomas von Aquin geringzuschätzen; es wäre Selbstüberhebung, wollte ich es wagen ihn zu loben, doch darf ich gestehen, dass ich mit staunender Bewunderung Berichte über sein Gesamtsystem gelesen und mich in einzelne seiner Schriften vertieft habe. Aber was ist für uns praktische Menschen — namentlich in dem Zusammenhang dieses Kapitels — das Entscheidende? Folgendes. Thomas baut sein »wie kein anderes allseitiges« System auf zwei Voraussetzungen auf: die Philosophie muss sich bedingungslos unterwerfen und ancilla ecclesiae, d. h. eine Magd der Kirche werden; ausserdem muss sie sich zur ancilla Aristotelis, zur Magd des Aristoteles erniedrigen. Man sieht, es ist immer dasselbe Prinzip: lass’ dir Hände und Füsse fesseln, und du sollst Wunder erleben! Hänge dir bestimmte Dogmen vor die Augen (welche durch Majoritätsbeschluss von Bischöfen, die viel- fach nicht lesen und schreiben konnten, in den Jahrhunderten der tiefsten Menschenschmach dekretiert wurden) und setze ausserdem voraus, dass die ersten tastenden Versuche eines genialen aber er- wiesenermassen sehr einseitigen hellenischen Systematikers die ewige, absolute, ganze Wahrheit zum Ausdruck bringen, und ich schenke dir ein universelles System! Das ist ein Attentat, ein gefährliches Attentat auf die innerste Freiheit des Menschen! Anstatt dass, wie Goethe es wollte, er innerlich grenzenlos wäre, sind ihm nun von fremder Hand zwei enge Reifen um die Seele und um das Hirn geschmiedet: das ist der Preis, den wir Menschen für »universelles Wissen« zu bezahlen haben. Übrigens war schon lange ehe Leo XIII. seine Encyklika erliess, der protestantischen Kirche ein auf ähnlichen Prinzipien ruhendes universelles System entwachsen, dasjenige von Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Ein protestantischer Thomas von 1) Fr. Abert (Professor der Theologie an der Universität Würzburg): Sancti Thomae Aquinatis compendium theologiae, 1896, S. 6. Der angeführte Satz ist die panegyrische Paraphrase eines ganz anders gemeinten Urteils aus alter Zeit. Bei aller Anerkennung für die Leistung des Thomas ist seine Gleichstellung mit dem bahnbrechenden Ordner und Gestalter Aristoteles (S. 82) ein ungeheuerlicher Urteilsfehler, wenn nicht eine verdammenswerte Irreführung. 44 a *

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 683. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/162>, abgerufen am 22.11.2024.