Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Hellenische Kunst und Philosophie. Homer tritt grösser als je in das 20. Jahrhundert, in das vierte Jahr-tausend seines Ruhmes ein.1) Denn neben den vielen philologisierenden Insekten hat Deutsch- 1) Es muss mir daran liegen, auch den geringsten Schein einer Gelehr- samkeit, die ich nicht besitze, von mir abzuwehren; ein Mann in meiner Lage kann ja nur von den Ergebnissen gelehrter Forschungen Kenntnis nehmen; an diese Ergebnisse hat er aber das Recht und die Pflicht als freier Mann und im Besitze einer vollwertigen Urteilskraft heranzutreten, und zwar muss er vor allem, dünkt mich, seine Urteilskraft in derselben Art benützen wie ein Monarch, dessen Weisheit sich namentlich in der Wahl seiner Ratgeber zu bewähren hat; über den Wert gelehrter Argumente kann der Laie nicht zu Gericht sitzen, dagegen vermag er es sehr gut, aus Stil, Sprache und Gedankenführung sich ein Urteil über den einzelnen Gelehrten zu bilden und zwischen Maurer und Architekten zu unterscheiden. Nicht also im Sinne einer materiellen Beweisführung, sondern lediglich damit der Leser über meine Urteilsfähigkeit im angedeuteten Sinne selber frei zu urteilen vermöge, weise ich hin und wieder in diesen Anmerkungen auf meine "Autoritäten" hin. Wie im Texte ausgeführt, halte ich es zunächst in dieser Frage mit Sokrates: über Flötenspiel haben Musiker das beste Urteil, über Dichtwerke Dichter. Die Meinung Goethe's ist mir in Bezug auf Homer mehr wert als die sämtlicher Philologen, die seit Beginn der Welt gelebt haben. Über diese letztere habe ich mich jedoch, so weit das ein Laie kann, orientiert, was namentlich bei einer so ungemein verwickelten Frage sehr von- nöten. Die zusammenfassenden Darstellungen von Niese: Die Entwickelung der Homerischen Poesie, 1882 und von Jebb: Homer, 1888, lassen Einen den Gang der Diskussion bis in die Neuzeit verfolgen; mehr aber auch nicht. Dagegen wandert man mit Bergk: Griechische Litteraturgeschichte, 1872 -- 84, an der Hand eines sicheren Führers. Dass Bergk ein Hellenist allerersten Ranges war, geben alle Fachmänner zu, dem Nichtfachmann fällt ausserdem die umfassende und durchdringende Beschaffenheit seines Wissens auf, gepaart mit einer Mässig- keit, die an Nüchternheit grenzt; Bergk ist nicht ein Feuergeist, er bildet bei der Beurteilung dieser Frage die Ergänzung zur blitzschnellen Intuition eines Schiller. Man lese nicht allein das Kapitel: "Homer eine historische Persönlichkeit", sondern namentlich auch in dem späteren Abschnitt "Homer bei den Neueren" die Ausführungen über die Liedertheorie, von der Bergk sagt: "Die allgemeinen Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 5
Hellenische Kunst und Philosophie. Homer tritt grösser als je in das 20. Jahrhundert, in das vierte Jahr-tausend seines Ruhmes ein.1) Denn neben den vielen philologisierenden Insekten hat Deutsch- 1) Es muss mir daran liegen, auch den geringsten Schein einer Gelehr- samkeit, die ich nicht besitze, von mir abzuwehren; ein Mann in meiner Lage kann ja nur von den Ergebnissen gelehrter Forschungen Kenntnis nehmen; an diese Ergebnisse hat er aber das Recht und die Pflicht als freier Mann und im Besitze einer vollwertigen Urteilskraft heranzutreten, und zwar muss er vor allem, dünkt mich, seine Urteilskraft in derselben Art benützen wie ein Monarch, dessen Weisheit sich namentlich in der Wahl seiner Ratgeber zu bewähren hat; über den Wert gelehrter Argumente kann der Laie nicht zu Gericht sitzen, dagegen vermag er es sehr gut, aus Stil, Sprache und Gedankenführung sich ein Urteil über den einzelnen Gelehrten zu bilden und zwischen Maurer und Architekten zu unterscheiden. Nicht also im Sinne einer materiellen Beweisführung, sondern lediglich damit der Leser über meine Urteilsfähigkeit im angedeuteten Sinne selber frei zu urteilen vermöge, weise ich hin und wieder in diesen Anmerkungen auf meine »Autoritäten« hin. Wie im Texte ausgeführt, halte ich es zunächst in dieser Frage mit Sokrates: über Flötenspiel haben Musiker das beste Urteil, über Dichtwerke Dichter. Die Meinung Goethe’s ist mir in Bezug auf Homer mehr wert als die sämtlicher Philologen, die seit Beginn der Welt gelebt haben. Über diese letztere habe ich mich jedoch, so weit das ein Laie kann, orientiert, was namentlich bei einer so ungemein verwickelten Frage sehr von- nöten. Die zusammenfassenden Darstellungen von Niese: Die Entwickelung der Homerischen Poesie, 1882 und von Jebb: Homer, 1888, lassen Einen den Gang der Diskussion bis in die Neuzeit verfolgen; mehr aber auch nicht. Dagegen wandert man mit Bergk: Griechische Litteraturgeschichte, 1872 — 84, an der Hand eines sicheren Führers. Dass Bergk ein Hellenist allerersten Ranges war, geben alle Fachmänner zu, dem Nichtfachmann fällt ausserdem die umfassende und durchdringende Beschaffenheit seines Wissens auf, gepaart mit einer Mässig- keit, die an Nüchternheit grenzt; Bergk ist nicht ein Feuergeist, er bildet bei der Beurteilung dieser Frage die Ergänzung zur blitzschnellen Intuition eines Schiller. Man lese nicht allein das Kapitel: »Homer eine historische Persönlichkeit«, sondern namentlich auch in dem späteren Abschnitt »Homer bei den Neueren« die Ausführungen über die Liedertheorie, von der Bergk sagt: »Die allgemeinen Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 5
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Hellenische Kunst und Philosophie.
Homer tritt grösser als je in das 20. Jahrhundert, in das vierte Jahr-
tausend seines Ruhmes ein. 1)
Denn neben den vielen philologisierenden Insekten hat Deutsch-
land ein unverwüstliches Geschlecht wahrhaft grosser Sprach- und
Litteraturforscher hervorgebracht; F. A. Wolf gehörte selber dazu;
niemals hat er sich bis zu der späteren wahnwitzigen Vorstellung
verstiegen, ein grosses Kunstwerk könnte aus der Zusammenwirkung
vieler kleiner Männer oder unmittelbar aus dem dunklen Bewusstsein
der Masse hervorgehen, und er wäre der erste, der von dem endlichen
Erfolg der langwierigen wissenschaftlichen Untersuchungen mit Be-
friedigung Kenntnis nehmen würde. Selbst in dem Falle, ein ebenso
grosses Genie wie Homer hätte sich mit Reparatur- und Ausschmück-
1) Es muss mir daran liegen, auch den geringsten Schein einer Gelehr-
samkeit, die ich nicht besitze, von mir abzuwehren; ein Mann in meiner Lage
kann ja nur von den Ergebnissen gelehrter Forschungen Kenntnis nehmen; an
diese Ergebnisse hat er aber das Recht und die Pflicht als freier Mann und im
Besitze einer vollwertigen Urteilskraft heranzutreten, und zwar muss er vor allem,
dünkt mich, seine Urteilskraft in derselben Art benützen wie ein Monarch, dessen
Weisheit sich namentlich in der Wahl seiner Ratgeber zu bewähren hat; über
den Wert gelehrter Argumente kann der Laie nicht zu Gericht sitzen, dagegen
vermag er es sehr gut, aus Stil, Sprache und Gedankenführung sich ein Urteil
über den einzelnen Gelehrten zu bilden und zwischen Maurer und Architekten
zu unterscheiden. Nicht also im Sinne einer materiellen Beweisführung, sondern
lediglich damit der Leser über meine Urteilsfähigkeit im angedeuteten Sinne selber
frei zu urteilen vermöge, weise ich hin und wieder in diesen Anmerkungen auf
meine »Autoritäten« hin. Wie im Texte ausgeführt, halte ich es zunächst in
dieser Frage mit Sokrates: über Flötenspiel haben Musiker das beste Urteil,
über Dichtwerke Dichter. Die Meinung Goethe’s ist mir in Bezug auf Homer
mehr wert als die sämtlicher Philologen, die seit Beginn der Welt gelebt
haben. Über diese letztere habe ich mich jedoch, so weit das ein Laie kann,
orientiert, was namentlich bei einer so ungemein verwickelten Frage sehr von-
nöten. Die zusammenfassenden Darstellungen von Niese: Die Entwickelung der
Homerischen Poesie, 1882 und von Jebb: Homer, 1888, lassen Einen den Gang
der Diskussion bis in die Neuzeit verfolgen; mehr aber auch nicht. Dagegen
wandert man mit Bergk: Griechische Litteraturgeschichte, 1872 — 84, an der
Hand eines sicheren Führers. Dass Bergk ein Hellenist allerersten Ranges war,
geben alle Fachmänner zu, dem Nichtfachmann fällt ausserdem die umfassende
und durchdringende Beschaffenheit seines Wissens auf, gepaart mit einer Mässig-
keit, die an Nüchternheit grenzt; Bergk ist nicht ein Feuergeist, er bildet bei
der Beurteilung dieser Frage die Ergänzung zur blitzschnellen Intuition eines
Schiller. Man lese nicht allein das Kapitel: »Homer eine historische Persönlichkeit«,
sondern namentlich auch in dem späteren Abschnitt »Homer bei den Neueren«
die Ausführungen über die Liedertheorie, von der Bergk sagt: »Die allgemeinen
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