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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
100 Jahre her, dass F. A. Wolf seine Hypothese in die Welt setzte;
seitdem haben unsere Neoalexandriner wacker weiter geschnüffelt und
geschaufelt, bis sie herausbekamen, Homer sei lediglich eine pseudo-
mythische Kollektivbezeichnung, und Ilias und Odyssee nichts weiter
als eine geschickte Zusammenkleisterung und Neuredigierung von
allerhand Liedern aus verschiedenen Zeiten und von allerhand
Dichtern -- -- Von wem zusammengekleistert? und so überaus schön
redigiert? Nun, natürlich von gelehrten Philologen, von den Vor-
fahren der jetzigen! Man wundert sich nur, dass, da wir wieder
einmal im Besitze eines so geistvollen Kritikergeschlechtes sind, diese
Herren sich nicht die Mühe genommen haben, uns Armen eine
neue Ilias zusammenzukleistern: an Liedern fehlt es doch wahrlich
nicht, auch nicht an echten, schönen Volksliedern, sollte es vielleicht
an Pappe, etwa gar an Gehirnpappe fehlen? -- Die kompetentesten
Richter in einer derartigen Frage sind offenbar die Dichter, die grossen
Dichter; der Philologe klebt an der Schale, welche der Willkür von
Jahrhunderten ausgesetzt war, des Dichters kongenialer Blick dringt
dagegen bis zum Kern vor und überblickt den individuellen Schaffens-
prozess. Schiller nun, mit der unfehlbaren Sicherheit seines Instinkts,
erklärte sofort, die Ansicht, Ilias und Odyssee seien nicht in allen
Hauptzügen ihrer Gestaltung das Werk eines einzigen gottbegnadeten
Mannes, für "einfach barbarisch". Ja, in seiner Erregung schiesst er
so weit über das Ziel hinaus, dass er Wolf einen "dummen Teufel"
nennt! Fast noch interessanter ist das Urteil Goethe's. Seine viel-
gerühmte Objektivität äusserte sich unter anderem auch darin, dass
er sich gern widerstandslos einem Eindruck hingab; Wolf's grosse
philologische Verdienste und die Menge des Richtigen, welche seine
Ausführungen enthielten, bestrickten den grossen Mann; er fühlte
sich überzeugt und erklärte es auch öffentlich. Später aber, als
Goethe sich wieder eingehend mit den Homerischen Dichtungen zu
beschäftigen die Gelegenheit hatte -- und diese Werke nicht mehr
vom philologisch-historischen, sondern vom rein dichterischen Stand-
punkt aus betrachtete -- da widerrief er seine voreilige Zustimmung
zu dem "subjektiven Krame" (wie er es nunmehr nannte), denn jetzt
wusste er genau: hinter diesen Werken steht eine "herrliche Einheit,
ein einziger, höherer Dichtersinn".1) Aber auch die Philologen sind,
auf ihren notwendigen Umwegen, zu derselben Einsicht gelangt, und

1) Siehe z. B. die kleine Schrift: Homer noch einmal, aus dem Jahre 1826.

Das Erbe der alten Welt.
100 Jahre her, dass F. A. Wolf seine Hypothese in die Welt setzte;
seitdem haben unsere Neoalexandriner wacker weiter geschnüffelt und
geschaufelt, bis sie herausbekamen, Homer sei lediglich eine pseudo-
mythische Kollektivbezeichnung, und Ilias und Odyssee nichts weiter
als eine geschickte Zusammenkleisterung und Neuredigierung von
allerhand Liedern aus verschiedenen Zeiten und von allerhand
Dichtern — — Von wem zusammengekleistert? und so überaus schön
redigiert? Nun, natürlich von gelehrten Philologen, von den Vor-
fahren der jetzigen! Man wundert sich nur, dass, da wir wieder
einmal im Besitze eines so geistvollen Kritikergeschlechtes sind, diese
Herren sich nicht die Mühe genommen haben, uns Armen eine
neue Ilias zusammenzukleistern: an Liedern fehlt es doch wahrlich
nicht, auch nicht an echten, schönen Volksliedern, sollte es vielleicht
an Pappe, etwa gar an Gehirnpappe fehlen? — Die kompetentesten
Richter in einer derartigen Frage sind offenbar die Dichter, die grossen
Dichter; der Philologe klebt an der Schale, welche der Willkür von
Jahrhunderten ausgesetzt war, des Dichters kongenialer Blick dringt
dagegen bis zum Kern vor und überblickt den individuellen Schaffens-
prozess. Schiller nun, mit der unfehlbaren Sicherheit seines Instinkts,
erklärte sofort, die Ansicht, Ilias und Odyssee seien nicht in allen
Hauptzügen ihrer Gestaltung das Werk eines einzigen gottbegnadeten
Mannes, für »einfach barbarisch«. Ja, in seiner Erregung schiesst er
so weit über das Ziel hinaus, dass er Wolf einen »dummen Teufel«
nennt! Fast noch interessanter ist das Urteil Goethe’s. Seine viel-
gerühmte Objektivität äusserte sich unter anderem auch darin, dass
er sich gern widerstandslos einem Eindruck hingab; Wolf’s grosse
philologische Verdienste und die Menge des Richtigen, welche seine
Ausführungen enthielten, bestrickten den grossen Mann; er fühlte
sich überzeugt und erklärte es auch öffentlich. Später aber, als
Goethe sich wieder eingehend mit den Homerischen Dichtungen zu
beschäftigen die Gelegenheit hatte — und diese Werke nicht mehr
vom philologisch-historischen, sondern vom rein dichterischen Stand-
punkt aus betrachtete — da widerrief er seine voreilige Zustimmung
zu dem »subjektiven Krame« (wie er es nunmehr nannte), denn jetzt
wusste er genau: hinter diesen Werken steht eine »herrliche Einheit,
ein einziger, höherer Dichtersinn«.1) Aber auch die Philologen sind,
auf ihren notwendigen Umwegen, zu derselben Einsicht gelangt, und

1) Siehe z. B. die kleine Schrift: Homer noch einmal, aus dem Jahre 1826.
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[64/0087] Das Erbe der alten Welt. 100 Jahre her, dass F. A. Wolf seine Hypothese in die Welt setzte; seitdem haben unsere Neoalexandriner wacker weiter geschnüffelt und geschaufelt, bis sie herausbekamen, Homer sei lediglich eine pseudo- mythische Kollektivbezeichnung, und Ilias und Odyssee nichts weiter als eine geschickte Zusammenkleisterung und Neuredigierung von allerhand Liedern aus verschiedenen Zeiten und von allerhand Dichtern — — Von wem zusammengekleistert? und so überaus schön redigiert? Nun, natürlich von gelehrten Philologen, von den Vor- fahren der jetzigen! Man wundert sich nur, dass, da wir wieder einmal im Besitze eines so geistvollen Kritikergeschlechtes sind, diese Herren sich nicht die Mühe genommen haben, uns Armen eine neue Ilias zusammenzukleistern: an Liedern fehlt es doch wahrlich nicht, auch nicht an echten, schönen Volksliedern, sollte es vielleicht an Pappe, etwa gar an Gehirnpappe fehlen? — Die kompetentesten Richter in einer derartigen Frage sind offenbar die Dichter, die grossen Dichter; der Philologe klebt an der Schale, welche der Willkür von Jahrhunderten ausgesetzt war, des Dichters kongenialer Blick dringt dagegen bis zum Kern vor und überblickt den individuellen Schaffens- prozess. Schiller nun, mit der unfehlbaren Sicherheit seines Instinkts, erklärte sofort, die Ansicht, Ilias und Odyssee seien nicht in allen Hauptzügen ihrer Gestaltung das Werk eines einzigen gottbegnadeten Mannes, für »einfach barbarisch«. Ja, in seiner Erregung schiesst er so weit über das Ziel hinaus, dass er Wolf einen »dummen Teufel« nennt! Fast noch interessanter ist das Urteil Goethe’s. Seine viel- gerühmte Objektivität äusserte sich unter anderem auch darin, dass er sich gern widerstandslos einem Eindruck hingab; Wolf’s grosse philologische Verdienste und die Menge des Richtigen, welche seine Ausführungen enthielten, bestrickten den grossen Mann; er fühlte sich überzeugt und erklärte es auch öffentlich. Später aber, als Goethe sich wieder eingehend mit den Homerischen Dichtungen zu beschäftigen die Gelegenheit hatte — und diese Werke nicht mehr vom philologisch-historischen, sondern vom rein dichterischen Stand- punkt aus betrachtete — da widerrief er seine voreilige Zustimmung zu dem »subjektiven Krame« (wie er es nunmehr nannte), denn jetzt wusste er genau: hinter diesen Werken steht eine »herrliche Einheit, ein einziger, höherer Dichtersinn«. 1) Aber auch die Philologen sind, auf ihren notwendigen Umwegen, zu derselben Einsicht gelangt, und 1) Siehe z. B. die kleine Schrift: Homer noch einmal, aus dem Jahre 1826.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/87>, abgerufen am 24.11.2024.