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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Mensch zum Künstler wird. Beobachtungen in Betreff der umgebenden
Natur (z. B. des gestirnten Himmels) können schon weit gediehen
und ein mannigfaltiger Götter- und Dämonenkultus entstanden sein,
ohne dass damit ein prinzipiell Neues in die Welt getreten wäre.
Das alles bezeugt eine schlummernde Fähigkeit, ist aber seinem Wesen
nach nichts weiter als die halbunbewusste Bethätigung eines Instinktes.
Erst wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen
Willen, die Götter erdichtet, wie er sie haben will, wenn ein Natur-
beobachter, wie Demokrit, aus freier Schöpferkraft die Vorstellung
des Atoms erfindet, wenn ein sinnender Seher, wie Plato, mit der
Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies die ganze sichtbare Natur
über Bord wirft und das menschenerschaffene Reich der Ideen an
ihre Stelle setzt, wenn ein erhabenster Lehrer ausruft: "Sehet, das
Himmelreich ist inwendig in euch!": dann erst ist ein durchaus neues
Geschöpf geboren, jenes Wesen, von dem Plato sagt: "Er hat Zeugungs-
kraft in der Seele viel mehr als im Leibe", dann erst enthält der
Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur zu heissen einzig ver-
dient, ist die Tochter solcher schöpferischen Freiheit, sagen wir kurz
der Kunst, mit welch letzterer Philosophie -- echte, schöpferische
Philosophie und Wissenschaft -- so eng verwandt ist, dass beide als
zwei Seiten desselben Wesens erkannt werden müssen; jeder grosse
Dichter war Philosoph, jeder geniale Philosoph ist Dichter. Was
ausserhalb dieses mikrokosmischen Kulturlebens steht, ist lediglich
"Civilisation", das heisst, ein beständig höher potenziertes, zunehmend
emsigeres, bequemeres und unfreieres Ameisenstaatendasein, gewiss
reich an Segen und insofern wünschenswert, eine Gabe der Zeiten
jedoch, bei welcher es häufig überaus fraglich bleibt, ob das Menschen-
geschlecht nicht mehr dafür bezahlt als erhält. Civilisation ist an
und für sich nichts, denn es bezeichnet nur ein Relatives; eine höhere
Civilisation dürfte nur dann als ein positiver Gewinn (als ein "Fort-
schritt") betrachtet werden, wenn sie zu einer zunehmend intensiven
geistigen und künstlerischen Gestaltung des Lebens und zu einer
innerlichen moralischen Klärung führte. Weil ihm das bei uns nicht
der Fall zu sein schien, darum durfte Goethe als berufenster Zeuge
das melancholische Geständnis machen: "Diese Zeiten sind schlechter
als man denkt". Dagegen beruht die unvergängliche Bedeutung des
Hellenentums darauf, dass es verstanden hat, sich eine Zeit zu schaffen,
besser, als wir sie uns irgend vorzustellen vermögen, eine unvergleich-
lich bessere Zeit, als seine eigene, so sehr rückständige Civilisation sie

Das Erbe der alten Welt.
Mensch zum Künstler wird. Beobachtungen in Betreff der umgebenden
Natur (z. B. des gestirnten Himmels) können schon weit gediehen
und ein mannigfaltiger Götter- und Dämonenkultus entstanden sein,
ohne dass damit ein prinzipiell Neues in die Welt getreten wäre.
Das alles bezeugt eine schlummernde Fähigkeit, ist aber seinem Wesen
nach nichts weiter als die halbunbewusste Bethätigung eines Instinktes.
Erst wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen
Willen, die Götter erdichtet, wie er sie haben will, wenn ein Natur-
beobachter, wie Demokrit, aus freier Schöpferkraft die Vorstellung
des Atoms erfindet, wenn ein sinnender Seher, wie Plato, mit der
Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies die ganze sichtbare Natur
über Bord wirft und das menschenerschaffene Reich der Ideen an
ihre Stelle setzt, wenn ein erhabenster Lehrer ausruft: »Sehet, das
Himmelreich ist inwendig in euch!«: dann erst ist ein durchaus neues
Geschöpf geboren, jenes Wesen, von dem Plato sagt: »Er hat Zeugungs-
kraft in der Seele viel mehr als im Leibe«, dann erst enthält der
Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur zu heissen einzig ver-
dient, ist die Tochter solcher schöpferischen Freiheit, sagen wir kurz
der Kunst, mit welch letzterer Philosophie — echte, schöpferische
Philosophie und Wissenschaft — so eng verwandt ist, dass beide als
zwei Seiten desselben Wesens erkannt werden müssen; jeder grosse
Dichter war Philosoph, jeder geniale Philosoph ist Dichter. Was
ausserhalb dieses mikrokosmischen Kulturlebens steht, ist lediglich
»Civilisation«, das heisst, ein beständig höher potenziertes, zunehmend
emsigeres, bequemeres und unfreieres Ameisenstaatendasein, gewiss
reich an Segen und insofern wünschenswert, eine Gabe der Zeiten
jedoch, bei welcher es häufig überaus fraglich bleibt, ob das Menschen-
geschlecht nicht mehr dafür bezahlt als erhält. Civilisation ist an
und für sich nichts, denn es bezeichnet nur ein Relatives; eine höhere
Civilisation dürfte nur dann als ein positiver Gewinn (als ein »Fort-
schritt«) betrachtet werden, wenn sie zu einer zunehmend intensiven
geistigen und künstlerischen Gestaltung des Lebens und zu einer
innerlichen moralischen Klärung führte. Weil ihm das bei uns nicht
der Fall zu sein schien, darum durfte Goethe als berufenster Zeuge
das melancholische Geständnis machen: »Diese Zeiten sind schlechter
als man denkt«. Dagegen beruht die unvergängliche Bedeutung des
Hellenentums darauf, dass es verstanden hat, sich eine Zeit zu schaffen,
besser, als wir sie uns irgend vorzustellen vermögen, eine unvergleich-
lich bessere Zeit, als seine eigene, so sehr rückständige Civilisation sie

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[62/0085] Das Erbe der alten Welt. Mensch zum Künstler wird. Beobachtungen in Betreff der umgebenden Natur (z. B. des gestirnten Himmels) können schon weit gediehen und ein mannigfaltiger Götter- und Dämonenkultus entstanden sein, ohne dass damit ein prinzipiell Neues in die Welt getreten wäre. Das alles bezeugt eine schlummernde Fähigkeit, ist aber seinem Wesen nach nichts weiter als die halbunbewusste Bethätigung eines Instinktes. Erst wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen Willen, die Götter erdichtet, wie er sie haben will, wenn ein Natur- beobachter, wie Demokrit, aus freier Schöpferkraft die Vorstellung des Atoms erfindet, wenn ein sinnender Seher, wie Plato, mit der Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies die ganze sichtbare Natur über Bord wirft und das menschenerschaffene Reich der Ideen an ihre Stelle setzt, wenn ein erhabenster Lehrer ausruft: »Sehet, das Himmelreich ist inwendig in euch!«: dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren, jenes Wesen, von dem Plato sagt: »Er hat Zeugungs- kraft in der Seele viel mehr als im Leibe«, dann erst enthält der Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur zu heissen einzig ver- dient, ist die Tochter solcher schöpferischen Freiheit, sagen wir kurz der Kunst, mit welch letzterer Philosophie — echte, schöpferische Philosophie und Wissenschaft — so eng verwandt ist, dass beide als zwei Seiten desselben Wesens erkannt werden müssen; jeder grosse Dichter war Philosoph, jeder geniale Philosoph ist Dichter. Was ausserhalb dieses mikrokosmischen Kulturlebens steht, ist lediglich »Civilisation«, das heisst, ein beständig höher potenziertes, zunehmend emsigeres, bequemeres und unfreieres Ameisenstaatendasein, gewiss reich an Segen und insofern wünschenswert, eine Gabe der Zeiten jedoch, bei welcher es häufig überaus fraglich bleibt, ob das Menschen- geschlecht nicht mehr dafür bezahlt als erhält. Civilisation ist an und für sich nichts, denn es bezeichnet nur ein Relatives; eine höhere Civilisation dürfte nur dann als ein positiver Gewinn (als ein »Fort- schritt«) betrachtet werden, wenn sie zu einer zunehmend intensiven geistigen und künstlerischen Gestaltung des Lebens und zu einer innerlichen moralischen Klärung führte. Weil ihm das bei uns nicht der Fall zu sein schien, darum durfte Goethe als berufenster Zeuge das melancholische Geständnis machen: »Diese Zeiten sind schlechter als man denkt«. Dagegen beruht die unvergängliche Bedeutung des Hellenentums darauf, dass es verstanden hat, sich eine Zeit zu schaffen, besser, als wir sie uns irgend vorzustellen vermögen, eine unvergleich- lich bessere Zeit, als seine eigene, so sehr rückständige Civilisation sie

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/85>, abgerufen am 24.11.2024.