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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
Eisenbahn, bald vielleicht im Luftschiff, -- der Zugvogel und der
Meeresbewohner hatten das Reisen schon längst in Mode gebracht,
und, genau wie sie, reist der Mensch, um sich Subsistenzmittel zu
verschaffen. Die unermessliche Überlegenheit des Menschen zeigt sich
freilich darin, dass er das alles vernünftig zu erfinden und in fort-
schreitender "Kumulation" anzuwenden versteht. Der Nachahmungs-
trieb und die Assimilationsfähigkeit, die man wohl bei allen Säuge-
tieren antrifft, erreichen bei ihm einen so hohen Grad, dass dieselbe
Sache gewissermassen doch eine andere wird; in analoger Weise sehen
wir bei chemischen Stoffen, dass häufig der Hinzutritt eines einzigen
wesensgleichen Atoms, also ein einfaches numerisches Hinzuthun, die
Qualitäten des betreffenden Stoffes gründlich umwandelt; wenn man
zu Sauerstoff Sauerstoff hinzuthut, entsteht Ozon, ein neuer Körper
(O2 + O1 = O3). Man übersehe jedoch nicht, dass alle menschlichen
Erfindungen dennoch auf Assimilation und Nachahmung beruhen; der
Mensch er -- findet das, was da vorliegt und einzig seines Kommens
harrte, genau so wie er dasjenige ent--deckt, was ihm bisher ver-
schleiert war; die Natur spielt "Versteckens" und "blinde Kuh" mit
ihm. Quod invenitur, fuit: sagt Tertullian. Dass er das versteht,
dass er nach dem Verborgenen sucht und nach und nach so vieles
aufdeckt und findet, das bezeugt freilich den Besitz von Gaben ohne-
gleichen; besässe er sie aber nicht, so wäre er ja das elendeste aller
Wesen -- denn ohne Waffen, ohne Kraft, ohne Flügel, ohne alles
steht er da: die bitterste Not ist seine Triebfeder, das Erfindungs-
vermögen sein Heil.

Was den Menschen nun zum wahren Menschen macht, zu
einem von allen, auch den menschlichen Tieren verschiedenen Wesen,
das ist, wenn er dazu gelangt, ohne Not zu erfinden, seine unver-
gleichliche Befähigung nicht im Dienste eines Naturzwanges, sondern
frei zu bethätigen, oder -- um für das selbe einen tieferen, ent-
sprechenderen Ausdruck zu gebrauchen -- wenn die Not, welche ihn
zum Erfinden treibt, nicht mehr von aussen, sondern von innen in
sein Bewusstsein tritt; wenn das, was sein Heil war, nunmehr sein
Heiligtum wird. Entscheidend ist der Augenblick, wo die freie
Erfindung bewusst auftritt, das heisst also der Augenblick, wo der

das Feuer zu erzeugen, erfunden haben, uns Menschen bliebe doch die Erfindung
der Gestalt des Prometheus, und dass dieses, nicht jenes es ist, was den Menschen
zum Menschen macht, bildet gerade den Inhalt meiner Ausführungen.

Hellenische Kunst und Philosophie.
Eisenbahn, bald vielleicht im Luftschiff, — der Zugvogel und der
Meeresbewohner hatten das Reisen schon längst in Mode gebracht,
und, genau wie sie, reist der Mensch, um sich Subsistenzmittel zu
verschaffen. Die unermessliche Überlegenheit des Menschen zeigt sich
freilich darin, dass er das alles vernünftig zu erfinden und in fort-
schreitender »Kumulation« anzuwenden versteht. Der Nachahmungs-
trieb und die Assimilationsfähigkeit, die man wohl bei allen Säuge-
tieren antrifft, erreichen bei ihm einen so hohen Grad, dass dieselbe
Sache gewissermassen doch eine andere wird; in analoger Weise sehen
wir bei chemischen Stoffen, dass häufig der Hinzutritt eines einzigen
wesensgleichen Atoms, also ein einfaches numerisches Hinzuthun, die
Qualitäten des betreffenden Stoffes gründlich umwandelt; wenn man
zu Sauerstoff Sauerstoff hinzuthut, entsteht Ozon, ein neuer Körper
(O2 + O1 = O3). Man übersehe jedoch nicht, dass alle menschlichen
Erfindungen dennoch auf Assimilation und Nachahmung beruhen; der
Mensch er — findet das, was da vorliegt und einzig seines Kommens
harrte, genau so wie er dasjenige ent—deckt, was ihm bisher ver-
schleiert war; die Natur spielt »Versteckens« und »blinde Kuh« mit
ihm. Quod invenitur, fuit: sagt Tertullian. Dass er das versteht,
dass er nach dem Verborgenen sucht und nach und nach so vieles
aufdeckt und findet, das bezeugt freilich den Besitz von Gaben ohne-
gleichen; besässe er sie aber nicht, so wäre er ja das elendeste aller
Wesen — denn ohne Waffen, ohne Kraft, ohne Flügel, ohne alles
steht er da: die bitterste Not ist seine Triebfeder, das Erfindungs-
vermögen sein Heil.

Was den Menschen nun zum wahren Menschen macht, zu
einem von allen, auch den menschlichen Tieren verschiedenen Wesen,
das ist, wenn er dazu gelangt, ohne Not zu erfinden, seine unver-
gleichliche Befähigung nicht im Dienste eines Naturzwanges, sondern
frei zu bethätigen, oder — um für das selbe einen tieferen, ent-
sprechenderen Ausdruck zu gebrauchen — wenn die Not, welche ihn
zum Erfinden treibt, nicht mehr von aussen, sondern von innen in
sein Bewusstsein tritt; wenn das, was sein Heil war, nunmehr sein
Heiligtum wird. Entscheidend ist der Augenblick, wo die freie
Erfindung bewusst auftritt, das heisst also der Augenblick, wo der

das Feuer zu erzeugen, erfunden haben, uns Menschen bliebe doch die Erfindung
der Gestalt des Prometheus, und dass dieses, nicht jenes es ist, was den Menschen
zum Menschen macht, bildet gerade den Inhalt meiner Ausführungen.
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[61/0084] Hellenische Kunst und Philosophie. Eisenbahn, bald vielleicht im Luftschiff, — der Zugvogel und der Meeresbewohner hatten das Reisen schon längst in Mode gebracht, und, genau wie sie, reist der Mensch, um sich Subsistenzmittel zu verschaffen. Die unermessliche Überlegenheit des Menschen zeigt sich freilich darin, dass er das alles vernünftig zu erfinden und in fort- schreitender »Kumulation« anzuwenden versteht. Der Nachahmungs- trieb und die Assimilationsfähigkeit, die man wohl bei allen Säuge- tieren antrifft, erreichen bei ihm einen so hohen Grad, dass dieselbe Sache gewissermassen doch eine andere wird; in analoger Weise sehen wir bei chemischen Stoffen, dass häufig der Hinzutritt eines einzigen wesensgleichen Atoms, also ein einfaches numerisches Hinzuthun, die Qualitäten des betreffenden Stoffes gründlich umwandelt; wenn man zu Sauerstoff Sauerstoff hinzuthut, entsteht Ozon, ein neuer Körper (O2 + O1 = O3). Man übersehe jedoch nicht, dass alle menschlichen Erfindungen dennoch auf Assimilation und Nachahmung beruhen; der Mensch er — findet das, was da vorliegt und einzig seines Kommens harrte, genau so wie er dasjenige ent—deckt, was ihm bisher ver- schleiert war; die Natur spielt »Versteckens« und »blinde Kuh« mit ihm. Quod invenitur, fuit: sagt Tertullian. Dass er das versteht, dass er nach dem Verborgenen sucht und nach und nach so vieles aufdeckt und findet, das bezeugt freilich den Besitz von Gaben ohne- gleichen; besässe er sie aber nicht, so wäre er ja das elendeste aller Wesen — denn ohne Waffen, ohne Kraft, ohne Flügel, ohne alles steht er da: die bitterste Not ist seine Triebfeder, das Erfindungs- vermögen sein Heil. Was den Menschen nun zum wahren Menschen macht, zu einem von allen, auch den menschlichen Tieren verschiedenen Wesen, das ist, wenn er dazu gelangt, ohne Not zu erfinden, seine unver- gleichliche Befähigung nicht im Dienste eines Naturzwanges, sondern frei zu bethätigen, oder — um für das selbe einen tieferen, ent- sprechenderen Ausdruck zu gebrauchen — wenn die Not, welche ihn zum Erfinden treibt, nicht mehr von aussen, sondern von innen in sein Bewusstsein tritt; wenn das, was sein Heil war, nunmehr sein Heiligtum wird. Entscheidend ist der Augenblick, wo die freie Erfindung bewusst auftritt, das heisst also der Augenblick, wo der 2) 2) das Feuer zu erzeugen, erfunden haben, uns Menschen bliebe doch die Erfindung der Gestalt des Prometheus, und dass dieses, nicht jenes es ist, was den Menschen zum Menschen macht, bildet gerade den Inhalt meiner Ausführungen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/84>, abgerufen am 23.07.2024.