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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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zulegen, mit anderen Worten, sie ihm zu verleihen. Betrachten wir
die äussere Geschichte des Volkes Israel, so bietet sie uns beim ersten
Anblick gewiss wenig Anziehendes; ausser einigen wenigen sym-
pathischen Zügen scheint alle Niederträchtigkeit, deren Menschen
fähig sind, in diesem einen Völkchen verdichtet; nicht als wären die
Juden im Grunde genommen noch schändlicher als die anderen
Menschen gewesen, die Fratze des Lasters aber glotzt einen aus ihrer
Geschichte in unverhüllter Nacktheit an: kein grosser politischer Sinn
entschuldigt hier das Ungerechte, keine Kunst, keine Philosophie ver-
söhnt mit den Greueln des Kampfes ums Dasein. Hier nun entstand
die Verneinung der Dinge dieser Welt und damit die Ahnung einer
höheren ausserweltlichen Bestimmung des Menschen. Hier wagten
es Männer mitten aus dem Volke, die Fürsten dieser Erde als "Diebs-
gesellen" zu brandmarken, und wehe zu rufen über die Reichen, "die
ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen,
bis dass sie allein das Land besitzen!" Das war eine andere Auf-
fassung des Rechtes als die der Römer, denen nichts heiliger dünkte
als der Besitz. Der Fluch galt jedoch nicht bloss den Mächtigen,
sondern auch "denen, die bei sich selbst weise sind und halten sich
selbst für klug", und ebenfalls den frohen Helden, die "Wein saufen"
und die Welt zum Tummelplatz sich auserkoren haben. So redet
bereits im 8. Jahrhundert vor Christi Geburt ein Jesaia.1) Diese erste
Auflehnung gegen das radikal Böse im Menschen und in der mensch-
lichen Gesellschaft erklingt aber immer mächtiger im Laufe der fol-
genden Jahrhunderte aus der Seele dieses merkwürdigen Volkes; sie
wird immer innerlicher, bis Jeremias ausruft: "Wehe mir, o Mutter,
dass du mich geboren hast!", und bis zuletzt die Verneinung zu einem
positiven Prinzip wird und ein erhabenster Prophet sich aus Liebe
ans Kreuz schlagen lässt. Mag man sich nun auf den Standpunkt
eines gläubigen Christen stellen oder einfach auf den des objektiven
Historikers, gleichviel, sicher ist, dass man, um die Gestalt Christi
deutlich zu erkennen, das Volk kennen muss, das ihn kreuzigte.
Freilich muss eines wohl beachtet werden: bei den Griechen und
Römern waren die Thaten dieser Völker die positive Errungenschaft,
dasjenige, was weiterlebte; bei den Juden dagegen war die Ver-
neinung der Thaten dieses Volkes die einzige positive Errungenschaft
für die Menschheit. Diese Verneinung ist aber ebenfalls eine historische,

1) Siehe Jesaia, Kap. 1 und 5.

Einleitendes.
zulegen, mit anderen Worten, sie ihm zu verleihen. Betrachten wir
die äussere Geschichte des Volkes Israel, so bietet sie uns beim ersten
Anblick gewiss wenig Anziehendes; ausser einigen wenigen sym-
pathischen Zügen scheint alle Niederträchtigkeit, deren Menschen
fähig sind, in diesem einen Völkchen verdichtet; nicht als wären die
Juden im Grunde genommen noch schändlicher als die anderen
Menschen gewesen, die Fratze des Lasters aber glotzt einen aus ihrer
Geschichte in unverhüllter Nacktheit an: kein grosser politischer Sinn
entschuldigt hier das Ungerechte, keine Kunst, keine Philosophie ver-
söhnt mit den Greueln des Kampfes ums Dasein. Hier nun entstand
die Verneinung der Dinge dieser Welt und damit die Ahnung einer
höheren ausserweltlichen Bestimmung des Menschen. Hier wagten
es Männer mitten aus dem Volke, die Fürsten dieser Erde als »Diebs-
gesellen« zu brandmarken, und wehe zu rufen über die Reichen, »die
ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen,
bis dass sie allein das Land besitzen!« Das war eine andere Auf-
fassung des Rechtes als die der Römer, denen nichts heiliger dünkte
als der Besitz. Der Fluch galt jedoch nicht bloss den Mächtigen,
sondern auch »denen, die bei sich selbst weise sind und halten sich
selbst für klug«, und ebenfalls den frohen Helden, die »Wein saufen«
und die Welt zum Tummelplatz sich auserkoren haben. So redet
bereits im 8. Jahrhundert vor Christi Geburt ein Jesaia.1) Diese erste
Auflehnung gegen das radikal Böse im Menschen und in der mensch-
lichen Gesellschaft erklingt aber immer mächtiger im Laufe der fol-
genden Jahrhunderte aus der Seele dieses merkwürdigen Volkes; sie
wird immer innerlicher, bis Jeremias ausruft: »Wehe mir, o Mutter,
dass du mich geboren hast!«, und bis zuletzt die Verneinung zu einem
positiven Prinzip wird und ein erhabenster Prophet sich aus Liebe
ans Kreuz schlagen lässt. Mag man sich nun auf den Standpunkt
eines gläubigen Christen stellen oder einfach auf den des objektiven
Historikers, gleichviel, sicher ist, dass man, um die Gestalt Christi
deutlich zu erkennen, das Volk kennen muss, das ihn kreuzigte.
Freilich muss eines wohl beachtet werden: bei den Griechen und
Römern waren die Thaten dieser Völker die positive Errungenschaft,
dasjenige, was weiterlebte; bei den Juden dagegen war die Ver-
neinung der Thaten dieses Volkes die einzige positive Errungenschaft
für die Menschheit. Diese Verneinung ist aber ebenfalls eine historische,

1) Siehe Jesaia, Kap. 1 und 5.
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[47/0070] Einleitendes. zulegen, mit anderen Worten, sie ihm zu verleihen. Betrachten wir die äussere Geschichte des Volkes Israel, so bietet sie uns beim ersten Anblick gewiss wenig Anziehendes; ausser einigen wenigen sym- pathischen Zügen scheint alle Niederträchtigkeit, deren Menschen fähig sind, in diesem einen Völkchen verdichtet; nicht als wären die Juden im Grunde genommen noch schändlicher als die anderen Menschen gewesen, die Fratze des Lasters aber glotzt einen aus ihrer Geschichte in unverhüllter Nacktheit an: kein grosser politischer Sinn entschuldigt hier das Ungerechte, keine Kunst, keine Philosophie ver- söhnt mit den Greueln des Kampfes ums Dasein. Hier nun entstand die Verneinung der Dinge dieser Welt und damit die Ahnung einer höheren ausserweltlichen Bestimmung des Menschen. Hier wagten es Männer mitten aus dem Volke, die Fürsten dieser Erde als »Diebs- gesellen« zu brandmarken, und wehe zu rufen über die Reichen, »die ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen, bis dass sie allein das Land besitzen!« Das war eine andere Auf- fassung des Rechtes als die der Römer, denen nichts heiliger dünkte als der Besitz. Der Fluch galt jedoch nicht bloss den Mächtigen, sondern auch »denen, die bei sich selbst weise sind und halten sich selbst für klug«, und ebenfalls den frohen Helden, die »Wein saufen« und die Welt zum Tummelplatz sich auserkoren haben. So redet bereits im 8. Jahrhundert vor Christi Geburt ein Jesaia. 1) Diese erste Auflehnung gegen das radikal Böse im Menschen und in der mensch- lichen Gesellschaft erklingt aber immer mächtiger im Laufe der fol- genden Jahrhunderte aus der Seele dieses merkwürdigen Volkes; sie wird immer innerlicher, bis Jeremias ausruft: »Wehe mir, o Mutter, dass du mich geboren hast!«, und bis zuletzt die Verneinung zu einem positiven Prinzip wird und ein erhabenster Prophet sich aus Liebe ans Kreuz schlagen lässt. Mag man sich nun auf den Standpunkt eines gläubigen Christen stellen oder einfach auf den des objektiven Historikers, gleichviel, sicher ist, dass man, um die Gestalt Christi deutlich zu erkennen, das Volk kennen muss, das ihn kreuzigte. Freilich muss eines wohl beachtet werden: bei den Griechen und Römern waren die Thaten dieser Völker die positive Errungenschaft, dasjenige, was weiterlebte; bei den Juden dagegen war die Ver- neinung der Thaten dieses Volkes die einzige positive Errungenschaft für die Menschheit. Diese Verneinung ist aber ebenfalls eine historische, 1) Siehe Jesaia, Kap. 1 und 5.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/70>, abgerufen am 24.11.2024.