Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Erben.
zipien soll diese autonome Persönlichkeit sich selbst Gesetze geben?
nach der Annahme eines unbeweisbaren "Reiches der Zwecke: freilich
nur ein Ideal!" Ein Ideal also soll das Leben bestimmen! Und in
einer Anmerkung zu dieser selben Schrift (Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten)
stellt Kant in wenigen Worten diese neue, spezifisch
germanische Weltauffassung der hellenischen entgegen: "Dort ist das
Reich der Zwecke eine theoretische Idee, zur Erklärung dessen, was
da ist; hier (bei uns Germanen) ist es eine praktische Idee, um das,
was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich
werden kann,
zu Stande zu bringen". Welche Kühnheit, ein
moralisches Reich, welches nicht da ist, durch unseren Willen er-
schaffen, "wirklich" werden lassen! Eine wie gefährliche Kühnheit,
wäre nicht jenes Prinzip der Treue am Werk, das für Kant's eigene
geistige Physiognomie so überaus charakteristisch ist! Und man merke
wohl diese Gegenüberstellung: hier (beim Germanen) Ideal und zugleich
Praxis, dort (beim Hellenen) das nüchtern Reale und als Geselle die
Theorie. Der grosse Kapitän der Mächte des Chaos spottete über die
deutschen "Ideologen", wie er sie nannte: ein Beweis von Unver-
ständnis, denn es waren praktischere Menschen als er selber. Nicht
das Ideal sitzt in den Wolken, sondern die Theorie. Das Ideal ist, wie
Kant es hier zu verstehen giebt, eine praktische Idee zum Unterschied
von einer theoretischen Idee. Und was wir hier, auf den Höhen der
Metaphysik, in scharfen Umrissen erblicken, wir finden es überall wieder:
der Germane ist der idealste, doch zugleich der praktischste Mensch
der Welt, und zwar, weil hier nicht Gegensätze vorliegen, sondern
im Gegenteil Identität. Dieser Mensch schreibt die Kritik der reinen
Vernunft, erfindet aber im selben Augenblick die Eisenbahn; das
Jahrhundert Bessemer's und Edison's ist zugleich das Jahrhundert
Beethoven's und Richard Wagner's. Wer hier die Einheit des Im-
pulses nicht empfindet, wem es rätselhaft dünkt, dass der Astronom
Newton seine mathematischen Forschungen unterbrechen konnte, um
einen Kommentar zur Offenbarung Johannis zu schreiben, dass
Crompton seine Spinnmaschine lediglich deswegen erfand, um mehr
Musse für die ihm einzig teuere Musik zu gewinnen, und dass Bismarck,
der Staatsmann von Blut und Eisen, sich in den entscheidenden Augen-
blicken seines Lebens Beethoven's Sonaten vorspielen lassen musste,
der versteht noch gar nichts vom Wesen des Germanen und kann
auch folglich dessen Rolle in Vergangenheit und Gegenwart der Welt-
geschichte nicht richtig beurteilen.

Die Erben.
zipien soll diese autonome Persönlichkeit sich selbst Gesetze geben?
nach der Annahme eines unbeweisbaren »Reiches der Zwecke: freilich
nur ein Ideal!« Ein Ideal also soll das Leben bestimmen! Und in
einer Anmerkung zu dieser selben Schrift (Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten)
stellt Kant in wenigen Worten diese neue, spezifisch
germanische Weltauffassung der hellenischen entgegen: »Dort ist das
Reich der Zwecke eine theoretische Idee, zur Erklärung dessen, was
da ist; hier (bei uns Germanen) ist es eine praktische Idee, um das,
was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich
werden kann,
zu Stande zu bringen«. Welche Kühnheit, ein
moralisches Reich, welches nicht da ist, durch unseren Willen er-
schaffen, »wirklich« werden lassen! Eine wie gefährliche Kühnheit,
wäre nicht jenes Prinzip der Treue am Werk, das für Kant’s eigene
geistige Physiognomie so überaus charakteristisch ist! Und man merke
wohl diese Gegenüberstellung: hier (beim Germanen) Ideal und zugleich
Praxis, dort (beim Hellenen) das nüchtern Reale und als Geselle die
Theorie. Der grosse Kapitän der Mächte des Chaos spottete über die
deutschen »Ideologen«, wie er sie nannte: ein Beweis von Unver-
ständnis, denn es waren praktischere Menschen als er selber. Nicht
das Ideal sitzt in den Wolken, sondern die Theorie. Das Ideal ist, wie
Kant es hier zu verstehen giebt, eine praktische Idee zum Unterschied
von einer theoretischen Idee. Und was wir hier, auf den Höhen der
Metaphysik, in scharfen Umrissen erblicken, wir finden es überall wieder:
der Germane ist der idealste, doch zugleich der praktischste Mensch
der Welt, und zwar, weil hier nicht Gegensätze vorliegen, sondern
im Gegenteil Identität. Dieser Mensch schreibt die Kritik der reinen
Vernunft, erfindet aber im selben Augenblick die Eisenbahn; das
Jahrhundert Bessemer’s und Edison’s ist zugleich das Jahrhundert
Beethoven’s und Richard Wagner’s. Wer hier die Einheit des Im-
pulses nicht empfindet, wem es rätselhaft dünkt, dass der Astronom
Newton seine mathematischen Forschungen unterbrechen konnte, um
einen Kommentar zur Offenbarung Johannis zu schreiben, dass
Crompton seine Spinnmaschine lediglich deswegen erfand, um mehr
Musse für die ihm einzig teuere Musik zu gewinnen, und dass Bismarck,
der Staatsmann von Blut und Eisen, sich in den entscheidenden Augen-
blicken seines Lebens Beethoven’s Sonaten vorspielen lassen musste,
der versteht noch gar nichts vom Wesen des Germanen und kann
auch folglich dessen Rolle in Vergangenheit und Gegenwart der Welt-
geschichte nicht richtig beurteilen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0533" n="510"/><fw place="top" type="header">Die Erben.</fw><lb/>
zipien soll diese autonome Persönlichkeit sich selbst Gesetze geben?<lb/>
nach der Annahme eines unbeweisbaren »Reiches der Zwecke: freilich<lb/>
nur ein Ideal!« Ein Ideal also soll das Leben bestimmen! Und in<lb/>
einer Anmerkung zu dieser selben Schrift <hi rendition="#i">(Grundlegung zur Meta-<lb/>
physik der Sitten)</hi> stellt Kant in wenigen Worten diese neue, spezifisch<lb/>
germanische Weltauffassung der hellenischen entgegen: »Dort ist das<lb/>
Reich der Zwecke eine theoretische Idee, zur Erklärung dessen, was<lb/>
da ist; hier (bei uns Germanen) ist es eine praktische Idee, um das,<lb/>
was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen <hi rendition="#g">wirklich<lb/>
werden kann,</hi> zu Stande zu bringen«. Welche Kühnheit, ein<lb/>
moralisches Reich, welches nicht da ist, durch unseren Willen er-<lb/>
schaffen, »wirklich« werden lassen! Eine wie gefährliche Kühnheit,<lb/>
wäre nicht jenes Prinzip der Treue am Werk, das für Kant&#x2019;s eigene<lb/>
geistige Physiognomie so überaus charakteristisch ist! Und man merke<lb/>
wohl diese Gegenüberstellung: hier (beim Germanen) Ideal und zugleich<lb/>
Praxis, dort (beim Hellenen) das nüchtern Reale und als Geselle die<lb/>
Theorie. Der grosse Kapitän der Mächte des Chaos spottete über die<lb/>
deutschen »Ideologen«, wie er sie nannte: ein Beweis von Unver-<lb/>
ständnis, denn es waren praktischere Menschen als er selber. Nicht<lb/>
das Ideal sitzt in den Wolken, sondern die Theorie. Das Ideal ist, wie<lb/>
Kant es hier zu verstehen giebt, eine praktische Idee zum Unterschied<lb/>
von einer theoretischen Idee. Und was wir hier, auf den Höhen der<lb/>
Metaphysik, in scharfen Umrissen erblicken, wir finden es überall wieder:<lb/>
der Germane ist der idealste, doch zugleich der praktischste Mensch<lb/>
der Welt, und zwar, weil hier nicht Gegensätze vorliegen, sondern<lb/>
im Gegenteil Identität. Dieser Mensch schreibt die Kritik der reinen<lb/>
Vernunft, erfindet aber im selben Augenblick die Eisenbahn; das<lb/>
Jahrhundert Bessemer&#x2019;s und Edison&#x2019;s ist zugleich das Jahrhundert<lb/>
Beethoven&#x2019;s und Richard Wagner&#x2019;s. Wer hier die Einheit des Im-<lb/>
pulses nicht empfindet, wem es rätselhaft dünkt, dass der Astronom<lb/>
Newton seine mathematischen Forschungen unterbrechen konnte, um<lb/>
einen Kommentar zur Offenbarung Johannis zu schreiben, dass<lb/>
Crompton seine Spinnmaschine lediglich deswegen erfand, um mehr<lb/>
Musse für die ihm einzig teuere Musik zu gewinnen, und dass Bismarck,<lb/>
der Staatsmann von Blut und Eisen, sich in den entscheidenden Augen-<lb/>
blicken seines Lebens Beethoven&#x2019;s Sonaten vorspielen lassen musste,<lb/>
der versteht noch gar nichts vom Wesen des Germanen und kann<lb/>
auch folglich dessen Rolle in Vergangenheit und Gegenwart der Welt-<lb/>
geschichte nicht richtig beurteilen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[510/0533] Die Erben. zipien soll diese autonome Persönlichkeit sich selbst Gesetze geben? nach der Annahme eines unbeweisbaren »Reiches der Zwecke: freilich nur ein Ideal!« Ein Ideal also soll das Leben bestimmen! Und in einer Anmerkung zu dieser selben Schrift (Grundlegung zur Meta- physik der Sitten) stellt Kant in wenigen Worten diese neue, spezifisch germanische Weltauffassung der hellenischen entgegen: »Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee, zur Erklärung dessen, was da ist; hier (bei uns Germanen) ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, zu Stande zu bringen«. Welche Kühnheit, ein moralisches Reich, welches nicht da ist, durch unseren Willen er- schaffen, »wirklich« werden lassen! Eine wie gefährliche Kühnheit, wäre nicht jenes Prinzip der Treue am Werk, das für Kant’s eigene geistige Physiognomie so überaus charakteristisch ist! Und man merke wohl diese Gegenüberstellung: hier (beim Germanen) Ideal und zugleich Praxis, dort (beim Hellenen) das nüchtern Reale und als Geselle die Theorie. Der grosse Kapitän der Mächte des Chaos spottete über die deutschen »Ideologen«, wie er sie nannte: ein Beweis von Unver- ständnis, denn es waren praktischere Menschen als er selber. Nicht das Ideal sitzt in den Wolken, sondern die Theorie. Das Ideal ist, wie Kant es hier zu verstehen giebt, eine praktische Idee zum Unterschied von einer theoretischen Idee. Und was wir hier, auf den Höhen der Metaphysik, in scharfen Umrissen erblicken, wir finden es überall wieder: der Germane ist der idealste, doch zugleich der praktischste Mensch der Welt, und zwar, weil hier nicht Gegensätze vorliegen, sondern im Gegenteil Identität. Dieser Mensch schreibt die Kritik der reinen Vernunft, erfindet aber im selben Augenblick die Eisenbahn; das Jahrhundert Bessemer’s und Edison’s ist zugleich das Jahrhundert Beethoven’s und Richard Wagner’s. Wer hier die Einheit des Im- pulses nicht empfindet, wem es rätselhaft dünkt, dass der Astronom Newton seine mathematischen Forschungen unterbrechen konnte, um einen Kommentar zur Offenbarung Johannis zu schreiben, dass Crompton seine Spinnmaschine lediglich deswegen erfand, um mehr Musse für die ihm einzig teuere Musik zu gewinnen, und dass Bismarck, der Staatsmann von Blut und Eisen, sich in den entscheidenden Augen- blicken seines Lebens Beethoven’s Sonaten vorspielen lassen musste, der versteht noch gar nichts vom Wesen des Germanen und kann auch folglich dessen Rolle in Vergangenheit und Gegenwart der Welt- geschichte nicht richtig beurteilen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/533
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/533>, abgerufen am 29.06.2024.