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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Gemütes ins Leben übertragen, es ist "der Lebensodem alles Guten
und Grossen", in der Nacht ein Stern, dem Ermatteten ein Sporn,
dem vom Sturm Gejagten ein Rettungsanker.1) Bei der Charakter-
anlage des Germanen ist Treue die notwendige Vollendung der Per-
sönlichkeit, ohne welche sie auseinanderfällt. Immanuel Kant hat
eine kühne, echt germanische Definition der Persönlichkeit gegeben:
sie ist, sagt er, "die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanis-
mus der ganzen Natur"; und was sie leistet, hat er folgendermassen
geschildert: "Was den Menschen über sich selbst (als einen Teil
der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft,
die nur der Verstand denken kann und die zugleich die ganze Sinnen-
welt unter sich hat, ist die Persönlichkeit". Ohne die Treue
wäre diese Erhebung aber eine Tod bringende; dank ihr allein kann
der Freiheitsdrang sich entwickeln und Segen bringen statt Fluch.
Treue in diesem germanischen Sinne kann ohne Freiheit nicht
entstehen, doch ist nicht abzusehen, wie ein unbegrenzter, schöpfe-
rischer Drang nach Freiheit ohne Treue bestehen könnte. Sie be-
zeugt die kindliche Angehörigkeit zur Natur und gestattet gerade
dadurch dem Menschen, sich über die Natur zu erheben, ohne dass
er, wie der hellenische Phaeton, zerschmettert zur Erde falle. Damm
schreibt Goethe: "Treue wahrt uns die Person!" Die germanische
Treue ist der Gürtel, welcher dem vergänglichen Einzelnen unver-
gängliche Schönheit verleiht, sie ist die Sonne, ohne welche kein
Wissen zur Weisheit reifen kann, der Zauber, durch den allein das
leidenschaftliche Thun des Freien zur bleibenden That gesegnet.

Mit diesem Wenigen, höchst Vereinfachten halten wir, glaubeIdeal
und Praxis.

ich, schon das wesentlich Unterscheidende an der geistigen und
moralischen Veranlagung der Germanen. Die weitere Ausführung
würde leicht ein ganzes Buch füllen, doch wäre es nur eine Aus-
führung. Will man den Germanen von seinen nächsten Anverwandten
klar unterscheiden, so greife man in das tiefste Wesen hinein und
stelle z. B. einen Kant als Morallehrer einem Aristoteles gegenüber.
Für Kant ist "die Autonomie des Willens das oberste Prinzip der
Sittlichkeit"; eine "moralische Persönlichkeit" besteht für ihn erst von
dem Augenblick an, wo "eine Person keinen anderen Gesetzen als
die sie sich selbst giebt, unterworfen ist." Und nach welchen Prin-

1) Der indischen Empfindung jedoch durchaus analog, insofern auch hier
das regulative Prinzip ins innerste Herz verlegt wird.

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Gemütes ins Leben übertragen, es ist »der Lebensodem alles Guten
und Grossen«, in der Nacht ein Stern, dem Ermatteten ein Sporn,
dem vom Sturm Gejagten ein Rettungsanker.1) Bei der Charakter-
anlage des Germanen ist Treue die notwendige Vollendung der Per-
sönlichkeit, ohne welche sie auseinanderfällt. Immanuel Kant hat
eine kühne, echt germanische Definition der Persönlichkeit gegeben:
sie ist, sagt er, »die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanis-
mus der ganzen Natur«; und was sie leistet, hat er folgendermassen
geschildert: »Was den Menschen über sich selbst (als einen Teil
der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft,
die nur der Verstand denken kann und die zugleich die ganze Sinnen-
welt unter sich hat, ist die Persönlichkeit«. Ohne die Treue
wäre diese Erhebung aber eine Tod bringende; dank ihr allein kann
der Freiheitsdrang sich entwickeln und Segen bringen statt Fluch.
Treue in diesem germanischen Sinne kann ohne Freiheit nicht
entstehen, doch ist nicht abzusehen, wie ein unbegrenzter, schöpfe-
rischer Drang nach Freiheit ohne Treue bestehen könnte. Sie be-
zeugt die kindliche Angehörigkeit zur Natur und gestattet gerade
dadurch dem Menschen, sich über die Natur zu erheben, ohne dass
er, wie der hellenische Phaëton, zerschmettert zur Erde falle. Damm
schreibt Goethe: »Treue wahrt uns die Person!« Die germanische
Treue ist der Gürtel, welcher dem vergänglichen Einzelnen unver-
gängliche Schönheit verleiht, sie ist die Sonne, ohne welche kein
Wissen zur Weisheit reifen kann, der Zauber, durch den allein das
leidenschaftliche Thun des Freien zur bleibenden That gesegnet.

Mit diesem Wenigen, höchst Vereinfachten halten wir, glaubeIdeal
und Praxis.

ich, schon das wesentlich Unterscheidende an der geistigen und
moralischen Veranlagung der Germanen. Die weitere Ausführung
würde leicht ein ganzes Buch füllen, doch wäre es nur eine Aus-
führung. Will man den Germanen von seinen nächsten Anverwandten
klar unterscheiden, so greife man in das tiefste Wesen hinein und
stelle z. B. einen Kant als Morallehrer einem Aristoteles gegenüber.
Für Kant ist »die Autonomie des Willens das oberste Prinzip der
Sittlichkeit«; eine »moralische Persönlichkeit« besteht für ihn erst von
dem Augenblick an, wo »eine Person keinen anderen Gesetzen als
die sie sich selbst giebt, unterworfen ist.« Und nach welchen Prin-

1) Der indischen Empfindung jedoch durchaus analog, insofern auch hier
das regulative Prinzip ins innerste Herz verlegt wird.
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[509/0532] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. Gemütes ins Leben übertragen, es ist »der Lebensodem alles Guten und Grossen«, in der Nacht ein Stern, dem Ermatteten ein Sporn, dem vom Sturm Gejagten ein Rettungsanker. 1) Bei der Charakter- anlage des Germanen ist Treue die notwendige Vollendung der Per- sönlichkeit, ohne welche sie auseinanderfällt. Immanuel Kant hat eine kühne, echt germanische Definition der Persönlichkeit gegeben: sie ist, sagt er, »die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanis- mus der ganzen Natur«; und was sie leistet, hat er folgendermassen geschildert: »Was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann und die zugleich die ganze Sinnen- welt unter sich hat, ist die Persönlichkeit«. Ohne die Treue wäre diese Erhebung aber eine Tod bringende; dank ihr allein kann der Freiheitsdrang sich entwickeln und Segen bringen statt Fluch. Treue in diesem germanischen Sinne kann ohne Freiheit nicht entstehen, doch ist nicht abzusehen, wie ein unbegrenzter, schöpfe- rischer Drang nach Freiheit ohne Treue bestehen könnte. Sie be- zeugt die kindliche Angehörigkeit zur Natur und gestattet gerade dadurch dem Menschen, sich über die Natur zu erheben, ohne dass er, wie der hellenische Phaëton, zerschmettert zur Erde falle. Damm schreibt Goethe: »Treue wahrt uns die Person!« Die germanische Treue ist der Gürtel, welcher dem vergänglichen Einzelnen unver- gängliche Schönheit verleiht, sie ist die Sonne, ohne welche kein Wissen zur Weisheit reifen kann, der Zauber, durch den allein das leidenschaftliche Thun des Freien zur bleibenden That gesegnet. Mit diesem Wenigen, höchst Vereinfachten halten wir, glaube ich, schon das wesentlich Unterscheidende an der geistigen und moralischen Veranlagung der Germanen. Die weitere Ausführung würde leicht ein ganzes Buch füllen, doch wäre es nur eine Aus- führung. Will man den Germanen von seinen nächsten Anverwandten klar unterscheiden, so greife man in das tiefste Wesen hinein und stelle z. B. einen Kant als Morallehrer einem Aristoteles gegenüber. Für Kant ist »die Autonomie des Willens das oberste Prinzip der Sittlichkeit«; eine »moralische Persönlichkeit« besteht für ihn erst von dem Augenblick an, wo »eine Person keinen anderen Gesetzen als die sie sich selbst giebt, unterworfen ist.« Und nach welchen Prin- Ideal und Praxis. 1) Der indischen Empfindung jedoch durchaus analog, insofern auch hier das regulative Prinzip ins innerste Herz verlegt wird.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/532>, abgerufen am 24.11.2024.