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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Priesterherrschaft an. Zu gleicher Zeit von zwei Seiten unaufhörlich
bekämpft und bedrückt und zertreten -- von den orthodoxen Serben
und von den stets jedem Wink des römischen Papstes gehorsamen
Ungarn --, die blutigen Opfer also eines ununterbrochenen zwiefachen
Kreuzzuges, hielt dieses kleine Volk an seinem Glauben durch Jahr-
hunderte fest; die Gräber seiner bogumilischen Helden zieren noch
heute die Bergesspitzen, wohin die Leichen, der zu befürchtenden
Schändung wegen, hinaufgetragen wurden. Erst der Mohammedaner
hat durch erzwungene Bekehrungen mit dieser Sekte aufgeräumt. Der-
selbe Geist, der hier auf einem abgelegenen Fleck Erde ein mutiges,
doch unwissendes Volk belebte, trug an anderen Orten reichere
Früchte, wobei der slavische Baum sich ebenso hervorthat wie die
anderen aus der germanischen Verwandtschaft.

Das wichtigste geschichtliche Ereignis unserer neunzehn Jahr-Die
Reformation.

hunderte ist ohne Frage die sogenannte "Reformation"; ihr liegt ein
doppeltes Prinzip zu Grunde, ein nationales und ein religiöses: beiden
gemeinsam ist die Lossagung vom fremden Joch, das Abschütteln
jener "toten Hand" des längst gestorbenen römischen Imperiums,
welches nicht allein über Güter und Gelder, sondern über Denken
und Fühlen und Glauben und Hoffen der Menschen sich ausbreitete.
Nirgends bewährt sich die organische Einheit des Slavokeltogermanen-
tums überzeugender als in dieser instinktiven Auflehnung gegen Rom.
Um diese Bewegung vom Standpunkt der Völkerpsychologie aus zu
begreifen, darf man zunächst keinerlei dogmatischen Glaubensstreitig-
keiten Aufmerksamkeit schenken; nicht was man über die Natur des
Abendmahls für wahr hält, ist entscheidend, sondern es stehen sich
hier lediglich zwei sich direkt widersprechende Prinzipien gegenüber:
Freiheit und Unfreiheit. Der grösste Reformator fährt, nachdem
er ausgeführt hat, es handle sich für ihn nicht um politische Rechte,
fort: "Aber im Geist und Gewissen sind wir die Allerfreiesten von aller
Knechtschaft: da glauben wir Niemand, da vertrauen wir Niemand,
da fürchten wir Niemand, ohne allein Christum". Das bedeutet aber
zugleich eine Lossagung des Individuums und der Nation. Und
wenn wir so gelernt haben, die "Reformation" nicht als eine rein
kirchliche Angelegenheit, sondern als eine Empörung des ganzen
Wesens gegen Fremdherrschaft, als eine Empörung der germanischen
Seele gegen ungermanische Seelentyrannei zu erkennen, so werden
wir zugeben müssen, dass diese "Reform" begann, sobald Germanen
durch Bildung und Musse zum Bewusstsein erwacht waren, und dass

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Priesterherrschaft an. Zu gleicher Zeit von zwei Seiten unaufhörlich
bekämpft und bedrückt und zertreten — von den orthodoxen Serben
und von den stets jedem Wink des römischen Papstes gehorsamen
Ungarn —, die blutigen Opfer also eines ununterbrochenen zwiefachen
Kreuzzuges, hielt dieses kleine Volk an seinem Glauben durch Jahr-
hunderte fest; die Gräber seiner bogumilischen Helden zieren noch
heute die Bergesspitzen, wohin die Leichen, der zu befürchtenden
Schändung wegen, hinaufgetragen wurden. Erst der Mohammedaner
hat durch erzwungene Bekehrungen mit dieser Sekte aufgeräumt. Der-
selbe Geist, der hier auf einem abgelegenen Fleck Erde ein mutiges,
doch unwissendes Volk belebte, trug an anderen Orten reichere
Früchte, wobei der slavische Baum sich ebenso hervorthat wie die
anderen aus der germanischen Verwandtschaft.

Das wichtigste geschichtliche Ereignis unserer neunzehn Jahr-Die
Reformation.

hunderte ist ohne Frage die sogenannte »Reformation«; ihr liegt ein
doppeltes Prinzip zu Grunde, ein nationales und ein religiöses: beiden
gemeinsam ist die Lossagung vom fremden Joch, das Abschütteln
jener »toten Hand« des längst gestorbenen römischen Imperiums,
welches nicht allein über Güter und Gelder, sondern über Denken
und Fühlen und Glauben und Hoffen der Menschen sich ausbreitete.
Nirgends bewährt sich die organische Einheit des Slavokeltogermanen-
tums überzeugender als in dieser instinktiven Auflehnung gegen Rom.
Um diese Bewegung vom Standpunkt der Völkerpsychologie aus zu
begreifen, darf man zunächst keinerlei dogmatischen Glaubensstreitig-
keiten Aufmerksamkeit schenken; nicht was man über die Natur des
Abendmahls für wahr hält, ist entscheidend, sondern es stehen sich
hier lediglich zwei sich direkt widersprechende Prinzipien gegenüber:
Freiheit und Unfreiheit. Der grösste Reformator fährt, nachdem
er ausgeführt hat, es handle sich für ihn nicht um politische Rechte,
fort: »Aber im Geist und Gewissen sind wir die Allerfreiesten von aller
Knechtschaft: da glauben wir Niemand, da vertrauen wir Niemand,
da fürchten wir Niemand, ohne allein Christum«. Das bedeutet aber
zugleich eine Lossagung des Individuums und der Nation. Und
wenn wir so gelernt haben, die »Reformation« nicht als eine rein
kirchliche Angelegenheit, sondern als eine Empörung des ganzen
Wesens gegen Fremdherrschaft, als eine Empörung der germanischen
Seele gegen ungermanische Seelentyrannei zu erkennen, so werden
wir zugeben müssen, dass diese »Reform« begann, sobald Germanen
durch Bildung und Musse zum Bewusstsein erwacht waren, und dass

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[477/0500] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. Priesterherrschaft an. Zu gleicher Zeit von zwei Seiten unaufhörlich bekämpft und bedrückt und zertreten — von den orthodoxen Serben und von den stets jedem Wink des römischen Papstes gehorsamen Ungarn —, die blutigen Opfer also eines ununterbrochenen zwiefachen Kreuzzuges, hielt dieses kleine Volk an seinem Glauben durch Jahr- hunderte fest; die Gräber seiner bogumilischen Helden zieren noch heute die Bergesspitzen, wohin die Leichen, der zu befürchtenden Schändung wegen, hinaufgetragen wurden. Erst der Mohammedaner hat durch erzwungene Bekehrungen mit dieser Sekte aufgeräumt. Der- selbe Geist, der hier auf einem abgelegenen Fleck Erde ein mutiges, doch unwissendes Volk belebte, trug an anderen Orten reichere Früchte, wobei der slavische Baum sich ebenso hervorthat wie die anderen aus der germanischen Verwandtschaft. Das wichtigste geschichtliche Ereignis unserer neunzehn Jahr- hunderte ist ohne Frage die sogenannte »Reformation«; ihr liegt ein doppeltes Prinzip zu Grunde, ein nationales und ein religiöses: beiden gemeinsam ist die Lossagung vom fremden Joch, das Abschütteln jener »toten Hand« des längst gestorbenen römischen Imperiums, welches nicht allein über Güter und Gelder, sondern über Denken und Fühlen und Glauben und Hoffen der Menschen sich ausbreitete. Nirgends bewährt sich die organische Einheit des Slavokeltogermanen- tums überzeugender als in dieser instinktiven Auflehnung gegen Rom. Um diese Bewegung vom Standpunkt der Völkerpsychologie aus zu begreifen, darf man zunächst keinerlei dogmatischen Glaubensstreitig- keiten Aufmerksamkeit schenken; nicht was man über die Natur des Abendmahls für wahr hält, ist entscheidend, sondern es stehen sich hier lediglich zwei sich direkt widersprechende Prinzipien gegenüber: Freiheit und Unfreiheit. Der grösste Reformator fährt, nachdem er ausgeführt hat, es handle sich für ihn nicht um politische Rechte, fort: »Aber im Geist und Gewissen sind wir die Allerfreiesten von aller Knechtschaft: da glauben wir Niemand, da vertrauen wir Niemand, da fürchten wir Niemand, ohne allein Christum«. Das bedeutet aber zugleich eine Lossagung des Individuums und der Nation. Und wenn wir so gelernt haben, die »Reformation« nicht als eine rein kirchliche Angelegenheit, sondern als eine Empörung des ganzen Wesens gegen Fremdherrschaft, als eine Empörung der germanischen Seele gegen ungermanische Seelentyrannei zu erkennen, so werden wir zugeben müssen, dass diese »Reform« begann, sobald Germanen durch Bildung und Musse zum Bewusstsein erwacht waren, und dass Die Reformation.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/500>, abgerufen am 14.09.2024.