Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Die Erben. d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt desMenschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres- zeiten -- auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim Essen und Trinken -- unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses' Tod 3000 solcher Vorschriften in Vergessenheit geraten;1) das kennzeichnet die Richtung. Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter- brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht, das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen Tüfteleien zu quälen2) und jede gesunde, freie, geistige Nahrung ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden- heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine Religion getötet und dann mumifiziert. Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders 1) Traktat Themura fol. 16a (Wünsche). 2) Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: Der alte und der neue Glaube (Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor- schriften lebt, "fast den halben Tag für die Religion allein". Gott wollte, sagt Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er- werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen! 3) In seiner Schrift Von den Pflichten der Kirchendiener I, 119.
Die Erben. d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt desMenschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres- zeiten — auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim Essen und Trinken — unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses’ Tod 3000 solcher Vorschriften in Vergessenheit geraten;1) das kennzeichnet die Richtung. Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter- brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht, das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen Tüfteleien zu quälen2) und jede gesunde, freie, geistige Nahrung ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden- heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine Religion getötet und dann mumifiziert. Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders 1) Traktat Themura fol. 16a (Wünsche). 2) Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: Der alte und der neue Glaube (Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor- schriften lebt, »fast den halben Tag für die Religion allein«. Gott wollte, sagt Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er- werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen! 3) In seiner Schrift Von den Pflichten der Kirchendiener I, 119.
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Die Erben.
d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt des
Menschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres-
zeiten — auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim
Essen und Trinken — unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen
Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses’ Tod 3000 solcher
Vorschriften in Vergessenheit geraten; 1) das kennzeichnet die Richtung.
Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter-
brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene
Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht,
das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl
sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge
hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes
zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein
Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des
Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen
Tüfteleien zu quälen 2) und jede gesunde, freie, geistige Nahrung
ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden-
heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen
zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die
Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine
Religion getötet und dann mumifiziert.
Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders
»die Unterwerfung des Gefühles unter die Vernunft«. 3) Das Wort
Vernunft ist vielleicht nicht besonders glücklich gewählt, unter den
»Willen« würde wohl eher das Richtige getroffen haben, doch mit
der Unterwerfung des Gefühles hat er vollkommen Recht und er sagt
damit in einfacher Form etwas von so grosser Tragweite, dass seine
Worte mir weitläufige Erörterungen ersparen. Wer aber wissen will,
wohin diese Unterwerfung des Gefühles in einer Religion führt, der
lasse sich über die Geschichte des Rabbinertums belehren und ver-
suche, sich durch einige Bruchstücke des Talmud hindurchzulesen.
Edle Rabbiner wird er antreffen und im Talmud mehr lobenswerte
1) Traktat Themura fol. 16a (Wünsche).
2) Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: Der alte und
der neue Glaube (Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor-
schriften lebt, »fast den halben Tag für die Religion allein«. Gott wollte, sagt
Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er-
werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen!
3) In seiner Schrift Von den Pflichten der Kirchendiener I, 119.
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