Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Erben.
d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt des
Menschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres-
zeiten -- auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim
Essen und Trinken -- unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen
Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses' Tod 3000 solcher
Vorschriften in Vergessenheit geraten;1) das kennzeichnet die Richtung.
Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter-
brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene
Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht,
das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl
sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge
hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes
zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein
Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des
Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen
Tüfteleien zu quälen2) und jede gesunde, freie, geistige Nahrung
ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden-
heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen
zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die
Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine
Religion getötet und dann mumifiziert.

Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders
"die Unterwerfung des Gefühles unter die Vernunft".3) Das Wort
Vernunft ist vielleicht nicht besonders glücklich gewählt, unter den
"Willen" würde wohl eher das Richtige getroffen haben, doch mit
der Unterwerfung des Gefühles hat er vollkommen Recht und er sagt
damit in einfacher Form etwas von so grosser Tragweite, dass seine
Worte mir weitläufige Erörterungen ersparen. Wer aber wissen will,
wohin diese Unterwerfung des Gefühles in einer Religion führt, der
lasse sich über die Geschichte des Rabbinertums belehren und ver-
suche, sich durch einige Bruchstücke des Talmud hindurchzulesen.
Edle Rabbiner wird er antreffen und im Talmud mehr lobenswerte

1) Traktat Themura fol. 16a (Wünsche).
2) Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: Der alte und
der neue Glaube
(Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor-
schriften lebt, "fast den halben Tag für die Religion allein". Gott wollte, sagt
Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er-
werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen!
3) In seiner Schrift Von den Pflichten der Kirchendiener I, 119.

Die Erben.
d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt des
Menschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres-
zeiten — auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim
Essen und Trinken — unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen
Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses’ Tod 3000 solcher
Vorschriften in Vergessenheit geraten;1) das kennzeichnet die Richtung.
Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter-
brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene
Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht,
das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl
sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge
hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes
zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein
Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des
Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen
Tüfteleien zu quälen2) und jede gesunde, freie, geistige Nahrung
ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden-
heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen
zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die
Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine
Religion getötet und dann mumifiziert.

Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders
»die Unterwerfung des Gefühles unter die Vernunft«.3) Das Wort
Vernunft ist vielleicht nicht besonders glücklich gewählt, unter den
»Willen« würde wohl eher das Richtige getroffen haben, doch mit
der Unterwerfung des Gefühles hat er vollkommen Recht und er sagt
damit in einfacher Form etwas von so grosser Tragweite, dass seine
Worte mir weitläufige Erörterungen ersparen. Wer aber wissen will,
wohin diese Unterwerfung des Gefühles in einer Religion führt, der
lasse sich über die Geschichte des Rabbinertums belehren und ver-
suche, sich durch einige Bruchstücke des Talmud hindurchzulesen.
Edle Rabbiner wird er antreffen und im Talmud mehr lobenswerte

1) Traktat Themura fol. 16a (Wünsche).
2) Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: Der alte und
der neue Glaube
(Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor-
schriften lebt, »fast den halben Tag für die Religion allein«. Gott wollte, sagt
Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er-
werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen!
3) In seiner Schrift Von den Pflichten der Kirchendiener I, 119.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0465" n="442"/><fw place="top" type="header">Die Erben.</fw><lb/>
d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt des<lb/>
Menschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres-<lb/>
zeiten &#x2014; auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim<lb/>
Essen und Trinken &#x2014; unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen<lb/>
Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses&#x2019; Tod 3000 solcher<lb/>
Vorschriften in Vergessenheit geraten;<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Traktat Themura</hi> fol. 16a (Wünsche).</note> das kennzeichnet die Richtung.<lb/>
Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter-<lb/>
brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene<lb/>
Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht,<lb/>
das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl<lb/>
sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge<lb/>
hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes<lb/>
zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein<lb/>
Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des<lb/>
Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen<lb/>
Tüfteleien zu quälen<note place="foot" n="2)">Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: <hi rendition="#i">Der alte und<lb/>
der neue Glaube</hi> (Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor-<lb/>
schriften lebt, »fast den halben Tag für die Religion allein«. Gott wollte, sagt<lb/>
Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er-<lb/>
werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen!</note> und jede gesunde, freie, geistige Nahrung<lb/>
ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden-<lb/>
heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen<lb/>
zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die<lb/>
Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine<lb/>
Religion getötet und dann mumifiziert.</p><lb/>
            <p>Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders<lb/>
»die Unterwerfung des Gefühles unter die Vernunft«.<note place="foot" n="3)">In seiner Schrift <hi rendition="#i">Von den Pflichten der Kirchendiener</hi> I, 119.</note> Das Wort<lb/>
Vernunft ist vielleicht nicht besonders glücklich gewählt, unter den<lb/>
»Willen« würde wohl eher das Richtige getroffen haben, doch mit<lb/>
der Unterwerfung des Gefühles hat er vollkommen Recht und er sagt<lb/>
damit in einfacher Form etwas von so grosser Tragweite, dass seine<lb/>
Worte mir weitläufige Erörterungen ersparen. Wer aber wissen will,<lb/>
wohin diese Unterwerfung des Gefühles in einer Religion führt, der<lb/>
lasse sich über die Geschichte des Rabbinertums belehren und ver-<lb/>
suche, sich durch einige Bruchstücke des Talmud hindurchzulesen.<lb/>
Edle Rabbiner wird er antreffen und im Talmud mehr lobenswerte<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[442/0465] Die Erben. d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt des Menschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres- zeiten — auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim Essen und Trinken — unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses’ Tod 3000 solcher Vorschriften in Vergessenheit geraten; 1) das kennzeichnet die Richtung. Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter- brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht, das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen Tüfteleien zu quälen 2) und jede gesunde, freie, geistige Nahrung ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden- heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine Religion getötet und dann mumifiziert. Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders »die Unterwerfung des Gefühles unter die Vernunft«. 3) Das Wort Vernunft ist vielleicht nicht besonders glücklich gewählt, unter den »Willen« würde wohl eher das Richtige getroffen haben, doch mit der Unterwerfung des Gefühles hat er vollkommen Recht und er sagt damit in einfacher Form etwas von so grosser Tragweite, dass seine Worte mir weitläufige Erörterungen ersparen. Wer aber wissen will, wohin diese Unterwerfung des Gefühles in einer Religion führt, der lasse sich über die Geschichte des Rabbinertums belehren und ver- suche, sich durch einige Bruchstücke des Talmud hindurchzulesen. Edle Rabbiner wird er antreffen und im Talmud mehr lobenswerte 1) Traktat Themura fol. 16a (Wünsche). 2) Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: Der alte und der neue Glaube (Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor- schriften lebt, »fast den halben Tag für die Religion allein«. Gott wollte, sagt Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er- werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen! 3) In seiner Schrift Von den Pflichten der Kirchendiener I, 119.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/465
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/465>, abgerufen am 11.09.2024.