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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
gonnene Werk dennoch durch die soeben erwähnten Vorgänge ge-
fährdet sah, sandte sie nach Babylon um Hilfe. Zunächst schickte
man ihr eine Verstärkung an Priestern und Schriftkundigen und zwar
gerade diejenigen, welche, mit Esra -- "dem geschickten Schriftge-
lehrten" -- an der Spitze, die Thora aufsetzen sollten; zugleich könig-
liche Edikte und Geld.1) Doch auch das genügte nicht; man brauchte
einen Mann der That, und so wurde der Mundschenk des Königs
Artaxerxes, Nehemia, mit diktatorischer Vollmacht ausgerüstet, nach
Jerusalem entsandt. Jetzt ging es energisch zu. "Mit Abscheu" wurden
diejenigen Jahveanbeter, die nicht offiziell zum jüdischen Volk gehörten,
zurückgewiesen; nicht Glaube, sondern Genealogie sollte fortan den
Ausschlag geben; alle Juden, die Nichtjüdinnen geheiratet hatten,
mussten sich scheiden lassen oder auswandern; in den Leviticus schrieb
man das Gesetz ein: "Ich habe euch abgesondert von den Völkern,
dass ihr mein wäret" (XX, 26); fortan sollte nie mehr ein Jude ausser-
halb seines Volkes heiraten, bei Todesstrafe; namentlich beging jeder
Mann, der ein ausländisches Weib ehelichte, "eine Sünde gegen
Gott".2) Hohe Mauern baute auch Nehemia um Jerusalem und versah
die Eingänge mit festen Thoren; dann verwies er den Fremden den
Eintritt überhaupt, auf dass das Volk "gereinigt sei von allem Aus-
ländischen". "Esra und Nehemia", sagt Wellhausen mit Recht, "sind,
durch die Gnade des Königs Artaxerxes, die definitiven Konstitutoren des
Judentums geworden".3) Was Hesekiel begründet, haben sie vollendet;
sie haben den Juden das Judentum aufgezwungen.

Das also wären die fünf historischen Momente, durch welche
die Entstehung des Judentums ermöglicht und gefördert wurde. Noch
einmal fasse ich sie kurz zusammen, damit sie fest im Gedächtnis
haften: die unerwartete, plötzliche Lostrennung von dem überlegenen

1) An Geld allein brachte Esra ein Geschenk des Königs von mehr als
fünf Millionen Mark! Die Echtheit (oder zum mindesten wesentliche Echtheit) der
von Esra angeführten persischen Dokumente ist, entgegen der Ansicht von Well-
hausen u. a., durch Eduard Meyer endgültig festgestellt worden: Die Entstehung des
Judentums
(1896), S. 1--71. Hiermit ist eine der wichtigsten Fragen der Ge-
schichte entschieden. Wer das kleine, aber ungewöhnlich gehaltreiche Buch
Meyer's gelesen hat, wird seine Schlussworte begreifen: "Das Judentum ist im
Namen des Perserkönigs und kraft der Autorität seines Reiches geschaffen worden,
und so reichen die Wirkungen des Achämenidenreiches gewaltig, wie wenig
Anderes noch unmittelbar in unsere Gegenwart hinein" (S. 243).
2) Nehemia XIII, 27. Vergl. das am Anfang dieses Kapitels Gesagte, S. 326.
3) Israelitische und jüdische Geschichte, S. 173.

Die Erben.
gonnene Werk dennoch durch die soeben erwähnten Vorgänge ge-
fährdet sah, sandte sie nach Babylon um Hilfe. Zunächst schickte
man ihr eine Verstärkung an Priestern und Schriftkundigen und zwar
gerade diejenigen, welche, mit Esra — »dem geschickten Schriftge-
lehrten« — an der Spitze, die Thora aufsetzen sollten; zugleich könig-
liche Edikte und Geld.1) Doch auch das genügte nicht; man brauchte
einen Mann der That, und so wurde der Mundschenk des Königs
Artaxerxes, Nehemia, mit diktatorischer Vollmacht ausgerüstet, nach
Jerusalem entsandt. Jetzt ging es energisch zu. »Mit Abscheu« wurden
diejenigen Jahveanbeter, die nicht offiziell zum jüdischen Volk gehörten,
zurückgewiesen; nicht Glaube, sondern Genealogie sollte fortan den
Ausschlag geben; alle Juden, die Nichtjüdinnen geheiratet hatten,
mussten sich scheiden lassen oder auswandern; in den Leviticus schrieb
man das Gesetz ein: »Ich habe euch abgesondert von den Völkern,
dass ihr mein wäret« (XX, 26); fortan sollte nie mehr ein Jude ausser-
halb seines Volkes heiraten, bei Todesstrafe; namentlich beging jeder
Mann, der ein ausländisches Weib ehelichte, »eine Sünde gegen
Gott«.2) Hohe Mauern baute auch Nehemia um Jerusalem und versah
die Eingänge mit festen Thoren; dann verwies er den Fremden den
Eintritt überhaupt, auf dass das Volk »gereinigt sei von allem Aus-
ländischen«. »Esra und Nehemia«, sagt Wellhausen mit Recht, »sind,
durch die Gnade des Königs Artaxerxes, die definitiven Konstitutoren des
Judentums geworden«.3) Was Hesekiel begründet, haben sie vollendet;
sie haben den Juden das Judentum aufgezwungen.

Das also wären die fünf historischen Momente, durch welche
die Entstehung des Judentums ermöglicht und gefördert wurde. Noch
einmal fasse ich sie kurz zusammen, damit sie fest im Gedächtnis
haften: die unerwartete, plötzliche Lostrennung von dem überlegenen

1) An Geld allein brachte Esra ein Geschenk des Königs von mehr als
fünf Millionen Mark! Die Echtheit (oder zum mindesten wesentliche Echtheit) der
von Esra angeführten persischen Dokumente ist, entgegen der Ansicht von Well-
hausen u. a., durch Eduard Meyer endgültig festgestellt worden: Die Entstehung des
Judentums
(1896), S. 1—71. Hiermit ist eine der wichtigsten Fragen der Ge-
schichte entschieden. Wer das kleine, aber ungewöhnlich gehaltreiche Buch
Meyer’s gelesen hat, wird seine Schlussworte begreifen: »Das Judentum ist im
Namen des Perserkönigs und kraft der Autorität seines Reiches geschaffen worden,
und so reichen die Wirkungen des Achämenidenreiches gewaltig, wie wenig
Anderes noch unmittelbar in unsere Gegenwart hinein« (S. 243).
2) Nehemia XIII, 27. Vergl. das am Anfang dieses Kapitels Gesagte, S. 326.
3) Israelitische und jüdische Geschichte, S. 173.
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[434/0457] Die Erben. gonnene Werk dennoch durch die soeben erwähnten Vorgänge ge- fährdet sah, sandte sie nach Babylon um Hilfe. Zunächst schickte man ihr eine Verstärkung an Priestern und Schriftkundigen und zwar gerade diejenigen, welche, mit Esra — »dem geschickten Schriftge- lehrten« — an der Spitze, die Thora aufsetzen sollten; zugleich könig- liche Edikte und Geld. 1) Doch auch das genügte nicht; man brauchte einen Mann der That, und so wurde der Mundschenk des Königs Artaxerxes, Nehemia, mit diktatorischer Vollmacht ausgerüstet, nach Jerusalem entsandt. Jetzt ging es energisch zu. »Mit Abscheu« wurden diejenigen Jahveanbeter, die nicht offiziell zum jüdischen Volk gehörten, zurückgewiesen; nicht Glaube, sondern Genealogie sollte fortan den Ausschlag geben; alle Juden, die Nichtjüdinnen geheiratet hatten, mussten sich scheiden lassen oder auswandern; in den Leviticus schrieb man das Gesetz ein: »Ich habe euch abgesondert von den Völkern, dass ihr mein wäret« (XX, 26); fortan sollte nie mehr ein Jude ausser- halb seines Volkes heiraten, bei Todesstrafe; namentlich beging jeder Mann, der ein ausländisches Weib ehelichte, »eine Sünde gegen Gott«. 2) Hohe Mauern baute auch Nehemia um Jerusalem und versah die Eingänge mit festen Thoren; dann verwies er den Fremden den Eintritt überhaupt, auf dass das Volk »gereinigt sei von allem Aus- ländischen«. »Esra und Nehemia«, sagt Wellhausen mit Recht, »sind, durch die Gnade des Königs Artaxerxes, die definitiven Konstitutoren des Judentums geworden«. 3) Was Hesekiel begründet, haben sie vollendet; sie haben den Juden das Judentum aufgezwungen. Das also wären die fünf historischen Momente, durch welche die Entstehung des Judentums ermöglicht und gefördert wurde. Noch einmal fasse ich sie kurz zusammen, damit sie fest im Gedächtnis haften: die unerwartete, plötzliche Lostrennung von dem überlegenen 1) An Geld allein brachte Esra ein Geschenk des Königs von mehr als fünf Millionen Mark! Die Echtheit (oder zum mindesten wesentliche Echtheit) der von Esra angeführten persischen Dokumente ist, entgegen der Ansicht von Well- hausen u. a., durch Eduard Meyer endgültig festgestellt worden: Die Entstehung des Judentums (1896), S. 1—71. Hiermit ist eine der wichtigsten Fragen der Ge- schichte entschieden. Wer das kleine, aber ungewöhnlich gehaltreiche Buch Meyer’s gelesen hat, wird seine Schlussworte begreifen: »Das Judentum ist im Namen des Perserkönigs und kraft der Autorität seines Reiches geschaffen worden, und so reichen die Wirkungen des Achämenidenreiches gewaltig, wie wenig Anderes noch unmittelbar in unsere Gegenwart hinein« (S. 243). 2) Nehemia XIII, 27. Vergl. das am Anfang dieses Kapitels Gesagte, S. 326. 3) Israelitische und jüdische Geschichte, S. 173.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/457>, abgerufen am 10.09.2024.