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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
tragischen Schicksal ihrer Brüder zugesehen, welches sie selber ihres
einzigen Schutzes beraubte; nunmehr schloss sich der Kreis der
Feinde eng um das kleine Land; wie sollte es gegen Weltreiche
bestehen? Zunächst fristete es sein Leben als des Assyrers freiwilliger
Vasall und genoss dessen Schutz gegen seine nächsten Bedränger, die
Damascener; dann benutzte es den Todeskampf des mächtigen Be-
schützers, um sich von ihm freizumachen, es intriguierte mit Ägypten,
söhnte sich wieder durch Bezahlung schwerer Sühne und Abtretung
gewisser Länderstriche mit den neuen Herren Kleinasiens, den Chaldäern,
aus -- -- -- kurz, das Königreich zog sein ziemlich kümmerliches
Dasein noch etwa 120 Jahre hin, bis endlich, bei Gelegenheit eines
neuerlichen Abfalles, Nebuchadrezzor die Geduld riss, und er den
König samt zehntausend der angesehensten Leute nach Babylon in
die Gefangenschaft führen liess; elf Jahre später, als die Intriguen
noch immer nicht aufhören wollten, zerstörte er Jerusalem und den
Tempel und liess die übrigen freien Männer Judäas mit ihren Familien
ebenfalls nach Babylonien schleppen; einige (unter ihnen Jeremia) flohen
nach Ägypten und gründeten die dortige Diaspora. Nach weiteren
sechzig Jahren kehrte zwar ein Teil der Exulanten zurück, doch nur
ein Teil; die Mehrzahl der Wohlhabenderen hatte es vorgezogen, in
Babylon zurückzubleiben; über ein Jahrhundert dauerte es, bis die
kleine heimgekehrte Kolonie, die eine unverhältnismässig grosse Anzahl
Priester und Leviten enthielt, sich in Jerusalem und dem angrenzenden,
sehr zusammengeschrumpften judäischen Gebiet organisiert, sowie einen
Tempel und die Mauern der Stadt wieder aufgerichtet hatte; ohne
den gnädigen Schutz der persischen Monarchen und ohne die Gaben
der im Ausland schnell reich gewordenen Juden wäre es ihnen über-
haupt nie gelungen. Ein Judäa und ein Jerusalem gab es also wieder,
doch hat es von der Zeit an nie mehr einen unabhängigen, judäischen
Staat gegeben.1)

Die Entwickelung aus dem Judäer zum eigentlichen Juden geschah
also unter der Mitwirkung bestimmter historischer Bedingungen. Man
pflegt zu sagen, die Geschichte wiederhole sich; sie wiederholt sich
im Gegenteil nie;2) der Jude ist eine ganz einzige Erscheinung, zu der

1) Nur mit Hilfe der Syrier gelangten die Makkabäer zur Herrschaft, und
auch die ihnen entsprungenen Fürsten des Hasmonäischen Hauses haben nur hin
und wieder einen Schein von Unabhängigkeit inmitten der Wirren, die der
römischen Herrschaft vorangingen, errungen.
2) Vergl. S. 164 Anmerkung.

Die Erben.
tragischen Schicksal ihrer Brüder zugesehen, welches sie selber ihres
einzigen Schutzes beraubte; nunmehr schloss sich der Kreis der
Feinde eng um das kleine Land; wie sollte es gegen Weltreiche
bestehen? Zunächst fristete es sein Leben als des Assyrers freiwilliger
Vasall und genoss dessen Schutz gegen seine nächsten Bedränger, die
Damascener; dann benutzte es den Todeskampf des mächtigen Be-
schützers, um sich von ihm freizumachen, es intriguierte mit Ägypten,
söhnte sich wieder durch Bezahlung schwerer Sühne und Abtretung
gewisser Länderstriche mit den neuen Herren Kleinasiens, den Chaldäern,
aus — — — kurz, das Königreich zog sein ziemlich kümmerliches
Dasein noch etwa 120 Jahre hin, bis endlich, bei Gelegenheit eines
neuerlichen Abfalles, Nebuchadrezzor die Geduld riss, und er den
König samt zehntausend der angesehensten Leute nach Babylon in
die Gefangenschaft führen liess; elf Jahre später, als die Intriguen
noch immer nicht aufhören wollten, zerstörte er Jerusalem und den
Tempel und liess die übrigen freien Männer Judäas mit ihren Familien
ebenfalls nach Babylonien schleppen; einige (unter ihnen Jeremia) flohen
nach Ägypten und gründeten die dortige Diaspora. Nach weiteren
sechzig Jahren kehrte zwar ein Teil der Exulanten zurück, doch nur
ein Teil; die Mehrzahl der Wohlhabenderen hatte es vorgezogen, in
Babylon zurückzubleiben; über ein Jahrhundert dauerte es, bis die
kleine heimgekehrte Kolonie, die eine unverhältnismässig grosse Anzahl
Priester und Leviten enthielt, sich in Jerusalem und dem angrenzenden,
sehr zusammengeschrumpften judäischen Gebiet organisiert, sowie einen
Tempel und die Mauern der Stadt wieder aufgerichtet hatte; ohne
den gnädigen Schutz der persischen Monarchen und ohne die Gaben
der im Ausland schnell reich gewordenen Juden wäre es ihnen über-
haupt nie gelungen. Ein Judäa und ein Jerusalem gab es also wieder,
doch hat es von der Zeit an nie mehr einen unabhängigen, judäischen
Staat gegeben.1)

Die Entwickelung aus dem Judäer zum eigentlichen Juden geschah
also unter der Mitwirkung bestimmter historischer Bedingungen. Man
pflegt zu sagen, die Geschichte wiederhole sich; sie wiederholt sich
im Gegenteil nie;2) der Jude ist eine ganz einzige Erscheinung, zu der

1) Nur mit Hilfe der Syrier gelangten die Makkabäer zur Herrschaft, und
auch die ihnen entsprungenen Fürsten des Hasmonäischen Hauses haben nur hin
und wieder einen Schein von Unabhängigkeit inmitten der Wirren, die der
römischen Herrschaft vorangingen, errungen.
2) Vergl. S. 164 Anmerkung.
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[422/0445] Die Erben. tragischen Schicksal ihrer Brüder zugesehen, welches sie selber ihres einzigen Schutzes beraubte; nunmehr schloss sich der Kreis der Feinde eng um das kleine Land; wie sollte es gegen Weltreiche bestehen? Zunächst fristete es sein Leben als des Assyrers freiwilliger Vasall und genoss dessen Schutz gegen seine nächsten Bedränger, die Damascener; dann benutzte es den Todeskampf des mächtigen Be- schützers, um sich von ihm freizumachen, es intriguierte mit Ägypten, söhnte sich wieder durch Bezahlung schwerer Sühne und Abtretung gewisser Länderstriche mit den neuen Herren Kleinasiens, den Chaldäern, aus — — — kurz, das Königreich zog sein ziemlich kümmerliches Dasein noch etwa 120 Jahre hin, bis endlich, bei Gelegenheit eines neuerlichen Abfalles, Nebuchadrezzor die Geduld riss, und er den König samt zehntausend der angesehensten Leute nach Babylon in die Gefangenschaft führen liess; elf Jahre später, als die Intriguen noch immer nicht aufhören wollten, zerstörte er Jerusalem und den Tempel und liess die übrigen freien Männer Judäas mit ihren Familien ebenfalls nach Babylonien schleppen; einige (unter ihnen Jeremia) flohen nach Ägypten und gründeten die dortige Diaspora. Nach weiteren sechzig Jahren kehrte zwar ein Teil der Exulanten zurück, doch nur ein Teil; die Mehrzahl der Wohlhabenderen hatte es vorgezogen, in Babylon zurückzubleiben; über ein Jahrhundert dauerte es, bis die kleine heimgekehrte Kolonie, die eine unverhältnismässig grosse Anzahl Priester und Leviten enthielt, sich in Jerusalem und dem angrenzenden, sehr zusammengeschrumpften judäischen Gebiet organisiert, sowie einen Tempel und die Mauern der Stadt wieder aufgerichtet hatte; ohne den gnädigen Schutz der persischen Monarchen und ohne die Gaben der im Ausland schnell reich gewordenen Juden wäre es ihnen über- haupt nie gelungen. Ein Judäa und ein Jerusalem gab es also wieder, doch hat es von der Zeit an nie mehr einen unabhängigen, judäischen Staat gegeben. 1) Die Entwickelung aus dem Judäer zum eigentlichen Juden geschah also unter der Mitwirkung bestimmter historischer Bedingungen. Man pflegt zu sagen, die Geschichte wiederhole sich; sie wiederholt sich im Gegenteil nie; 2) der Jude ist eine ganz einzige Erscheinung, zu der 1) Nur mit Hilfe der Syrier gelangten die Makkabäer zur Herrschaft, und auch die ihnen entsprungenen Fürsten des Hasmonäischen Hauses haben nur hin und wieder einen Schein von Unabhängigkeit inmitten der Wirren, die der römischen Herrschaft vorangingen, errungen. 2) Vergl. S. 164 Anmerkung.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/445>, abgerufen am 09.09.2024.