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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
Kunstsinn heimisch geworden; eine der Sünden, die Amos den Israeliten
vorwirft, ist, dass sie "Lieder machen wie David"! Da empörte sich
der anticivilisatorische Instinkt des echteren Semiten; der edel Gesinnte
empfand instinktiv und gewaltig die Inkompatibilität zwischen der
fremden Kultur und den geistigen Anlagen seines Volkes; er sah vor
seinen Füssen die Grube sich öffnen, in die in der That alle bastardierten
semitischen Reiche schnell und spurlos versunken sind, und, furchtlos
wie der Beduin, erhob er sich zum Kampf. Sofort, von Elias an,
gleicht diese Prophetenbewegung einem gesunden, trockenen Wüsten-
wind, der, von fernher heranstürmend, die Blüten der Fäulnis -- doch
zugleich auch die Knospen der Schönheit und der Kultur -- versengt.
Auch Elisa, der Nachfolger des Elias, hat seinen Wohnort in Ephraim.
Nun tritt aber der erste grosse Prophet auf, dessen Worte wir noch
besitzen. Ich sage "gross", wenn er auch wegen des geringen Um-
fanges seiner Schriften zu den sogenannten "kleinen Propheten" ge-
rechnet wird; denn Amos ist, was Tiefe des religiösen Gedankens,
sowie Schärfe des politischen Blickes anbelangt, den grössten ebenbürtig.
Dieser Prophet soll zwar aus Judäa stammen, doch wird dies von Vielen
(z. B. von Graetz) bezweifelt;1) jedenfalls kennt er das josephitische
Reich als wäre es seine Heimat und seine Ermahnungen gelten lediglich
diesem Reiche. Der nächste grosse "kleine Prophet", Hosea, eine
ebenso einzige Erscheinung wie Amos, ist Ephraimiter; auch er geht
auf in den Schicksalen des einen Hauses Joseph; mit ganzem Herzen
hängt er an seinem geliebten Volk, und, wie das einmal Prophetenart
ist, verkündigt er viele Dinge voraus, die nicht geschahen: die Er-
rettung Israels durch den mitleidigen Jahve, und die ewige Herrschaft
dieses Volkes. Hiermit schliesst die Reihe, hiermit endet der Einfluss
Israels auf Juda; denn vermutlich noch zu Lebzeiten Hosea's, jedenfalls
bald nach seinem Tode, wird das ganze nördliche Volk von den
Assyrern in die Gefangenschaft weggeschleppt und kehrt nie wieder.

Erst von diesem Augenblick, d. h. vom Jahre 721 vor ChristoDas Werden
des Juden.

an, konnte der eigentliche Jude zu entstehen beginnen; bis dahin,
wie wir soeben gesehen, hatte Juda politisch, sozial und religiös im
Schlepptau des offenbar viel begabteren Israel schwimmen müssen,
jetzt stand dieser Stamm allein, auf eigenen Füssen. Die Lage war
eine furchtbare. Mit Zittern und Entsetzen hatten die Juden dem

1) Auch von Neueren (z. B. Cheyne), seitdem nachgewiesen ist, dass die
berühmte Stelle: "Der Herr wird aus Zion brüllen" (Amos I, 2) eine späte jüdische
Interpolation ist.

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
Kunstsinn heimisch geworden; eine der Sünden, die Amos den Israeliten
vorwirft, ist, dass sie »Lieder machen wie David«! Da empörte sich
der anticivilisatorische Instinkt des echteren Semiten; der edel Gesinnte
empfand instinktiv und gewaltig die Inkompatibilität zwischen der
fremden Kultur und den geistigen Anlagen seines Volkes; er sah vor
seinen Füssen die Grube sich öffnen, in die in der That alle bastardierten
semitischen Reiche schnell und spurlos versunken sind, und, furchtlos
wie der Beduin, erhob er sich zum Kampf. Sofort, von Elias an,
gleicht diese Prophetenbewegung einem gesunden, trockenen Wüsten-
wind, der, von fernher heranstürmend, die Blüten der Fäulnis — doch
zugleich auch die Knospen der Schönheit und der Kultur — versengt.
Auch Elisa, der Nachfolger des Elias, hat seinen Wohnort in Ephraim.
Nun tritt aber der erste grosse Prophet auf, dessen Worte wir noch
besitzen. Ich sage »gross«, wenn er auch wegen des geringen Um-
fanges seiner Schriften zu den sogenannten »kleinen Propheten« ge-
rechnet wird; denn Amos ist, was Tiefe des religiösen Gedankens,
sowie Schärfe des politischen Blickes anbelangt, den grössten ebenbürtig.
Dieser Prophet soll zwar aus Judäa stammen, doch wird dies von Vielen
(z. B. von Graetz) bezweifelt;1) jedenfalls kennt er das josephitische
Reich als wäre es seine Heimat und seine Ermahnungen gelten lediglich
diesem Reiche. Der nächste grosse »kleine Prophet«, Hosea, eine
ebenso einzige Erscheinung wie Amos, ist Ephraimiter; auch er geht
auf in den Schicksalen des einen Hauses Joseph; mit ganzem Herzen
hängt er an seinem geliebten Volk, und, wie das einmal Prophetenart
ist, verkündigt er viele Dinge voraus, die nicht geschahen: die Er-
rettung Israels durch den mitleidigen Jahve, und die ewige Herrschaft
dieses Volkes. Hiermit schliesst die Reihe, hiermit endet der Einfluss
Israels auf Juda; denn vermutlich noch zu Lebzeiten Hosea’s, jedenfalls
bald nach seinem Tode, wird das ganze nördliche Volk von den
Assyrern in die Gefangenschaft weggeschleppt und kehrt nie wieder.

Erst von diesem Augenblick, d. h. vom Jahre 721 vor ChristoDas Werden
des Juden.

an, konnte der eigentliche Jude zu entstehen beginnen; bis dahin,
wie wir soeben gesehen, hatte Juda politisch, sozial und religiös im
Schlepptau des offenbar viel begabteren Israel schwimmen müssen,
jetzt stand dieser Stamm allein, auf eigenen Füssen. Die Lage war
eine furchtbare. Mit Zittern und Entsetzen hatten die Juden dem

1) Auch von Neueren (z. B. Cheyne), seitdem nachgewiesen ist, dass die
berühmte Stelle: »Der Herr wird aus Zion brüllen« (Amos I, 2) eine späte jüdische
Interpolation ist.
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[421/0444] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. Kunstsinn heimisch geworden; eine der Sünden, die Amos den Israeliten vorwirft, ist, dass sie »Lieder machen wie David«! Da empörte sich der anticivilisatorische Instinkt des echteren Semiten; der edel Gesinnte empfand instinktiv und gewaltig die Inkompatibilität zwischen der fremden Kultur und den geistigen Anlagen seines Volkes; er sah vor seinen Füssen die Grube sich öffnen, in die in der That alle bastardierten semitischen Reiche schnell und spurlos versunken sind, und, furchtlos wie der Beduin, erhob er sich zum Kampf. Sofort, von Elias an, gleicht diese Prophetenbewegung einem gesunden, trockenen Wüsten- wind, der, von fernher heranstürmend, die Blüten der Fäulnis — doch zugleich auch die Knospen der Schönheit und der Kultur — versengt. Auch Elisa, der Nachfolger des Elias, hat seinen Wohnort in Ephraim. Nun tritt aber der erste grosse Prophet auf, dessen Worte wir noch besitzen. Ich sage »gross«, wenn er auch wegen des geringen Um- fanges seiner Schriften zu den sogenannten »kleinen Propheten« ge- rechnet wird; denn Amos ist, was Tiefe des religiösen Gedankens, sowie Schärfe des politischen Blickes anbelangt, den grössten ebenbürtig. Dieser Prophet soll zwar aus Judäa stammen, doch wird dies von Vielen (z. B. von Graetz) bezweifelt; 1) jedenfalls kennt er das josephitische Reich als wäre es seine Heimat und seine Ermahnungen gelten lediglich diesem Reiche. Der nächste grosse »kleine Prophet«, Hosea, eine ebenso einzige Erscheinung wie Amos, ist Ephraimiter; auch er geht auf in den Schicksalen des einen Hauses Joseph; mit ganzem Herzen hängt er an seinem geliebten Volk, und, wie das einmal Prophetenart ist, verkündigt er viele Dinge voraus, die nicht geschahen: die Er- rettung Israels durch den mitleidigen Jahve, und die ewige Herrschaft dieses Volkes. Hiermit schliesst die Reihe, hiermit endet der Einfluss Israels auf Juda; denn vermutlich noch zu Lebzeiten Hosea’s, jedenfalls bald nach seinem Tode, wird das ganze nördliche Volk von den Assyrern in die Gefangenschaft weggeschleppt und kehrt nie wieder. Erst von diesem Augenblick, d. h. vom Jahre 721 vor Christo an, konnte der eigentliche Jude zu entstehen beginnen; bis dahin, wie wir soeben gesehen, hatte Juda politisch, sozial und religiös im Schlepptau des offenbar viel begabteren Israel schwimmen müssen, jetzt stand dieser Stamm allein, auf eigenen Füssen. Die Lage war eine furchtbare. Mit Zittern und Entsetzen hatten die Juden dem Das Werden des Juden. 1) Auch von Neueren (z. B. Cheyne), seitdem nachgewiesen ist, dass die berühmte Stelle: »Der Herr wird aus Zion brüllen« (Amos I, 2) eine späte jüdische Interpolation ist.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/444>, abgerufen am 23.11.2024.