Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
den Hethitern vermissten, ist hier gegeben. Und zwar sind wir jetzt,
wo wir die Analyse bis ins Innere fortgesetzt haben, im Stande, den
Finger auf den Punkt zu legen, wo hier einzig Grösse zu erwarten
ist: offenbar doch einzig auf dem Gebiete des Willens und bei allen
jenen Leistungen, die aus einem Vorwalten des Willens über andere
Fähigkeiten erfolgen können. Jener Ibn Khaldun, welcher behauptet,
der Semit "habe nicht die geringste Fähigkeit, etwas Dauerhaftes zu
gründen", lobt als unvergleichlich die Einfachheit seiner Bedürfnisse
(Mangel an Phantasie), den Instinkt, der ihn eng an die Seinen bindet,
von Anderen ihn scheidend (verkümmertes Gemüt), die Leichtigkeit,
mit der er sich von einem Propheten in das Delirium der Be-
geisterung hinreissen lässt, in tiefster Demut dem göttlichen Gebote
gehorchend (schlechte Urteilsfähigkeit infolge der Unentwickeltheit der
Vernunft). Ich habe in diesem Satze zu jeder Behauptung Ibn
Khaldun's meinen Kommentar gemacht, doch nur um zu zeigen, dass
eine jede der genannten Eigenschaften -- Bedürfnislosigkeit, Familien-
sinn, Gottesglaube -- in diesem Falle einen Triumph des Willens
bedeutet, nicht etwa, um den Wert der Genügsamkeit, der Treue
gegen die Seinen und des Gehorsams gegen Gott herabzusetzen. Es
kommt aber darauf an, zu unterscheiden -- das ist sogar überhaupt
das wichtigste Geschäft des Denkens --, und um recht zu verstehen,
was ein echter Semit ist, muss man einsehen lernen: dass die Be-
dürfnislosigkeit eines Omar, für den nichts auf der Welt Interesse
bietet, nicht dieselbe ist, wie die eines Immanuel Kant, der nur darum
keine äusserlichen Gaben begehrt, weil sein allumfassender Geist die
ganze Welt besitzt; dass die Treue gegen das eigene Blut etwas
durchaus anderes ist, als z. B. die Treue jener Amoriter gegen den
selbstgewählten Herrn -- das eine ist lediglich eine instinktmässige Er-
weiterung des egoistischen Willenskreises, das andere ist eine freie
Selbstbestimmung des Individuums, eine Art gelebte Dichtung; vor
allem muss man, oder vielmehr müsste man (denn ich darf nicht
hoffen, es zu erleben) zwischen einem rasenden Gottesglauben und
wahrer Religion unterscheiden lernen, und auch Monolatrie mit
Monotheismus nicht verwechseln. Das hindert durchaus nicht, die
spezifisch semitische Grösse anzuerkennen. Mag der Mohammedanismus
auch die schlechteste aller Religionen sein, wie sie Schopenhauer ge-
nannt hat, wen durchschauerte es nicht mit fast unheimlicher Be-
wunderung, wenn er einen Mohammedaner in den Tod gehen sieht,
so gelassen, als ginge er spazieren? Und diese Macht des semitischen

25 *

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
den Hethitern vermissten, ist hier gegeben. Und zwar sind wir jetzt,
wo wir die Analyse bis ins Innere fortgesetzt haben, im Stande, den
Finger auf den Punkt zu legen, wo hier einzig Grösse zu erwarten
ist: offenbar doch einzig auf dem Gebiete des Willens und bei allen
jenen Leistungen, die aus einem Vorwalten des Willens über andere
Fähigkeiten erfolgen können. Jener Ibn Khaldun, welcher behauptet,
der Semit »habe nicht die geringste Fähigkeit, etwas Dauerhaftes zu
gründen«, lobt als unvergleichlich die Einfachheit seiner Bedürfnisse
(Mangel an Phantasie), den Instinkt, der ihn eng an die Seinen bindet,
von Anderen ihn scheidend (verkümmertes Gemüt), die Leichtigkeit,
mit der er sich von einem Propheten in das Delirium der Be-
geisterung hinreissen lässt, in tiefster Demut dem göttlichen Gebote
gehorchend (schlechte Urteilsfähigkeit infolge der Unentwickeltheit der
Vernunft). Ich habe in diesem Satze zu jeder Behauptung Ibn
Khaldun’s meinen Kommentar gemacht, doch nur um zu zeigen, dass
eine jede der genannten Eigenschaften — Bedürfnislosigkeit, Familien-
sinn, Gottesglaube — in diesem Falle einen Triumph des Willens
bedeutet, nicht etwa, um den Wert der Genügsamkeit, der Treue
gegen die Seinen und des Gehorsams gegen Gott herabzusetzen. Es
kommt aber darauf an, zu unterscheiden — das ist sogar überhaupt
das wichtigste Geschäft des Denkens —, und um recht zu verstehen,
was ein echter Semit ist, muss man einsehen lernen: dass die Be-
dürfnislosigkeit eines Omar, für den nichts auf der Welt Interesse
bietet, nicht dieselbe ist, wie die eines Immanuel Kant, der nur darum
keine äusserlichen Gaben begehrt, weil sein allumfassender Geist die
ganze Welt besitzt; dass die Treue gegen das eigene Blut etwas
durchaus anderes ist, als z. B. die Treue jener Amoriter gegen den
selbstgewählten Herrn — das eine ist lediglich eine instinktmässige Er-
weiterung des egoistischen Willenskreises, das andere ist eine freie
Selbstbestimmung des Individuums, eine Art gelebte Dichtung; vor
allem muss man, oder vielmehr müsste man (denn ich darf nicht
hoffen, es zu erleben) zwischen einem rasenden Gottesglauben und
wahrer Religion unterscheiden lernen, und auch Monolatrie mit
Monotheismus nicht verwechseln. Das hindert durchaus nicht, die
spezifisch semitische Grösse anzuerkennen. Mag der Mohammedanismus
auch die schlechteste aller Religionen sein, wie sie Schopenhauer ge-
nannt hat, wen durchschauerte es nicht mit fast unheimlicher Be-
wunderung, wenn er einen Mohammedaner in den Tod gehen sieht,
so gelassen, als ginge er spazieren? Und diese Macht des semitischen

25 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0410" n="387"/><fw place="top" type="header">Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.</fw><lb/>
den Hethitern vermissten, ist hier gegeben. Und zwar sind wir jetzt,<lb/>
wo wir die Analyse bis ins Innere fortgesetzt haben, im Stande, den<lb/>
Finger auf den Punkt zu legen, wo hier einzig Grösse zu erwarten<lb/>
ist: offenbar doch einzig auf dem Gebiete des Willens und bei allen<lb/>
jenen Leistungen, die aus einem Vorwalten des Willens über andere<lb/>
Fähigkeiten erfolgen können. Jener Ibn Khaldun, welcher behauptet,<lb/>
der Semit »habe nicht die geringste Fähigkeit, etwas Dauerhaftes zu<lb/>
gründen«, lobt als unvergleichlich die Einfachheit seiner Bedürfnisse<lb/>
(Mangel an Phantasie), den Instinkt, der ihn eng an die Seinen bindet,<lb/>
von Anderen ihn scheidend (verkümmertes Gemüt), die Leichtigkeit,<lb/>
mit der er sich von einem Propheten in das Delirium der Be-<lb/>
geisterung hinreissen lässt, in tiefster Demut dem göttlichen Gebote<lb/>
gehorchend (schlechte Urteilsfähigkeit infolge der Unentwickeltheit der<lb/>
Vernunft). Ich habe in diesem Satze zu jeder Behauptung Ibn<lb/>
Khaldun&#x2019;s meinen Kommentar gemacht, doch nur um zu zeigen, dass<lb/>
eine jede der genannten Eigenschaften &#x2014; Bedürfnislosigkeit, Familien-<lb/>
sinn, Gottesglaube &#x2014; in diesem Falle einen Triumph des Willens<lb/>
bedeutet, nicht etwa, um den Wert der Genügsamkeit, der Treue<lb/>
gegen die Seinen und des Gehorsams gegen Gott herabzusetzen. Es<lb/>
kommt aber darauf an, zu <hi rendition="#g">unterscheiden</hi> &#x2014; das ist sogar überhaupt<lb/>
das wichtigste Geschäft des Denkens &#x2014;, und um recht zu verstehen,<lb/>
was ein echter Semit ist, muss man einsehen lernen: dass die Be-<lb/>
dürfnislosigkeit eines Omar, für den nichts auf der Welt Interesse<lb/>
bietet, nicht dieselbe ist, wie die eines Immanuel Kant, der nur darum<lb/>
keine äusserlichen Gaben begehrt, weil sein allumfassender Geist die<lb/>
ganze Welt besitzt; dass die Treue gegen das eigene Blut etwas<lb/>
durchaus anderes ist, als z. B. die Treue jener Amoriter gegen den<lb/>
selbstgewählten Herrn &#x2014; das eine ist lediglich eine instinktmässige Er-<lb/>
weiterung des egoistischen Willenskreises, das andere ist eine freie<lb/>
Selbstbestimmung des Individuums, eine Art gelebte Dichtung; vor<lb/>
allem muss man, oder vielmehr müsste man (denn ich darf nicht<lb/>
hoffen, es zu erleben) zwischen einem rasenden Gottesglauben und<lb/>
wahrer Religion unterscheiden lernen, und auch Monolatrie mit<lb/>
Monotheismus nicht verwechseln. Das hindert durchaus nicht, die<lb/>
spezifisch semitische Grösse anzuerkennen. Mag der Mohammedanismus<lb/>
auch die schlechteste aller Religionen sein, wie sie Schopenhauer ge-<lb/>
nannt hat, wen durchschauerte es nicht mit fast unheimlicher Be-<lb/>
wunderung, wenn er einen Mohammedaner in den Tod gehen sieht,<lb/>
so gelassen, als ginge er spazieren? Und diese Macht des semitischen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">25 *</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[387/0410] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. den Hethitern vermissten, ist hier gegeben. Und zwar sind wir jetzt, wo wir die Analyse bis ins Innere fortgesetzt haben, im Stande, den Finger auf den Punkt zu legen, wo hier einzig Grösse zu erwarten ist: offenbar doch einzig auf dem Gebiete des Willens und bei allen jenen Leistungen, die aus einem Vorwalten des Willens über andere Fähigkeiten erfolgen können. Jener Ibn Khaldun, welcher behauptet, der Semit »habe nicht die geringste Fähigkeit, etwas Dauerhaftes zu gründen«, lobt als unvergleichlich die Einfachheit seiner Bedürfnisse (Mangel an Phantasie), den Instinkt, der ihn eng an die Seinen bindet, von Anderen ihn scheidend (verkümmertes Gemüt), die Leichtigkeit, mit der er sich von einem Propheten in das Delirium der Be- geisterung hinreissen lässt, in tiefster Demut dem göttlichen Gebote gehorchend (schlechte Urteilsfähigkeit infolge der Unentwickeltheit der Vernunft). Ich habe in diesem Satze zu jeder Behauptung Ibn Khaldun’s meinen Kommentar gemacht, doch nur um zu zeigen, dass eine jede der genannten Eigenschaften — Bedürfnislosigkeit, Familien- sinn, Gottesglaube — in diesem Falle einen Triumph des Willens bedeutet, nicht etwa, um den Wert der Genügsamkeit, der Treue gegen die Seinen und des Gehorsams gegen Gott herabzusetzen. Es kommt aber darauf an, zu unterscheiden — das ist sogar überhaupt das wichtigste Geschäft des Denkens —, und um recht zu verstehen, was ein echter Semit ist, muss man einsehen lernen: dass die Be- dürfnislosigkeit eines Omar, für den nichts auf der Welt Interesse bietet, nicht dieselbe ist, wie die eines Immanuel Kant, der nur darum keine äusserlichen Gaben begehrt, weil sein allumfassender Geist die ganze Welt besitzt; dass die Treue gegen das eigene Blut etwas durchaus anderes ist, als z. B. die Treue jener Amoriter gegen den selbstgewählten Herrn — das eine ist lediglich eine instinktmässige Er- weiterung des egoistischen Willenskreises, das andere ist eine freie Selbstbestimmung des Individuums, eine Art gelebte Dichtung; vor allem muss man, oder vielmehr müsste man (denn ich darf nicht hoffen, es zu erleben) zwischen einem rasenden Gottesglauben und wahrer Religion unterscheiden lernen, und auch Monolatrie mit Monotheismus nicht verwechseln. Das hindert durchaus nicht, die spezifisch semitische Grösse anzuerkennen. Mag der Mohammedanismus auch die schlechteste aller Religionen sein, wie sie Schopenhauer ge- nannt hat, wen durchschauerte es nicht mit fast unheimlicher Be- wunderung, wenn er einen Mohammedaner in den Tod gehen sieht, so gelassen, als ginge er spazieren? Und diese Macht des semitischen 25 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/410
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/410>, abgerufen am 17.06.2024.