des jüdischen Nationalcharakters in Betracht: die geschichtliche Auffassung der Religion und das Vorwiegen des Willens. Diese zwei Züge stehen zu einander in genetischem Zusammenhang, wie wir gleich sehen werden. Der erste hat namentlich das Lebens- schicksal Christi und das Schicksal seines Angedenkens tief beeinflusst, im letzteren wurzelt seine Sittenlehre. Wer an diesen Dingen nicht achtlos vorübergeht, wird Aufschluss über manche der tiefsten und schwierigsten Fragen in der Geschichte des Christentums und über manche der unlösbaren inneren Widersprüche unserer religiösen Tendenzen bis auf den heutigen Tag erhalten.
Von den vielen semitischen Völkerschaften hat eine einzige sichGeschichtliche Religion. als nationale Einheit erhalten, und zwar eine der kleinsten und politisch ohnmächtigsten; dieses kleine Volk hat allen Stürmen ge- trotzt und steht heute als Unikum unter den Menschen da: ohne Vaterland, ohne Oberhaupt, durch die ganze Welt zerstreut, den ver- schiedensten Nationalitäten eingereiht, und dennoch einig und einheits- bewusst. Dieses Wunder ist das Werk eines Buches, der Thora (mit allem was sich im Laufe der Zeit bis hinunter zu unseren Tagen ergänzend hinzufügte). Dieses Buch aber muss als das Erzeugnis einer ganz eigenartigen Volksseele betrachtet werden, welche in einem kritischen Augenblicke von einzelnen zielbewussten, bedeutenden Männern diesen bestimmten Weg gewiesen wurde. In dem zweit- nächsten Kapitel werde ich auf die Entstehung und Bedeutung dieser kanonischen Schriften näher einzugehen haben. Vorderhand will ich einzig darauf die Aufmerksamkeit lenken, dass das Alte Testament ein rein geschichtliches Werk ist. Wenn man von einzelnen späten und im Grunde genommen durchaus unwesentlichen Beigaben, wie den sogenannten Sprüchen Salomo's, absieht, ist jeder Satz dieser Bücher geschichtlich; auch die ganze Gesetzgebung, die sie enthalten, wird geschichtlich begründet oder knüpft mindestens in chronistischer Weise an geschilderte Vorgänge an: "der Herr redete mit Mose", Aaron's Brandopfer wird vom Herrn verzehrt, Aaron's Söhne werden während der Gesetzesverkündigung getötet u. s. w., u. s. w.; und gilt es etwas zu erfinden, so knüpft der Schreiber entweder an eine romanhafte Erzählung an, wie im Buche Hiob, oder an eine kühne Geschichtsfälschung, wie im Buche Esther. Durch dieses Vor- walten des chronistischen Elementes unterscheidet sich die Bibel von allen anderen bekannten heiligen Büchern. Was es an Religion ent- hält, tritt als Bestandteil einer historischen Erzählung auf, nicht um-
Die Erscheinung Christi.
des jüdischen Nationalcharakters in Betracht: die geschichtliche Auffassung der Religion und das Vorwiegen des Willens. Diese zwei Züge stehen zu einander in genetischem Zusammenhang, wie wir gleich sehen werden. Der erste hat namentlich das Lebens- schicksal Christi und das Schicksal seines Angedenkens tief beeinflusst, im letzteren wurzelt seine Sittenlehre. Wer an diesen Dingen nicht achtlos vorübergeht, wird Aufschluss über manche der tiefsten und schwierigsten Fragen in der Geschichte des Christentums und über manche der unlösbaren inneren Widersprüche unserer religiösen Tendenzen bis auf den heutigen Tag erhalten.
Von den vielen semitischen Völkerschaften hat eine einzige sichGeschichtliche Religion. als nationale Einheit erhalten, und zwar eine der kleinsten und politisch ohnmächtigsten; dieses kleine Volk hat allen Stürmen ge- trotzt und steht heute als Unikum unter den Menschen da: ohne Vaterland, ohne Oberhaupt, durch die ganze Welt zerstreut, den ver- schiedensten Nationalitäten eingereiht, und dennoch einig und einheits- bewusst. Dieses Wunder ist das Werk eines Buches, der Thora (mit allem was sich im Laufe der Zeit bis hinunter zu unseren Tagen ergänzend hinzufügte). Dieses Buch aber muss als das Erzeugnis einer ganz eigenartigen Volksseele betrachtet werden, welche in einem kritischen Augenblicke von einzelnen zielbewussten, bedeutenden Männern diesen bestimmten Weg gewiesen wurde. In dem zweit- nächsten Kapitel werde ich auf die Entstehung und Bedeutung dieser kanonischen Schriften näher einzugehen haben. Vorderhand will ich einzig darauf die Aufmerksamkeit lenken, dass das Alte Testament ein rein geschichtliches Werk ist. Wenn man von einzelnen späten und im Grunde genommen durchaus unwesentlichen Beigaben, wie den sogenannten Sprüchen Salomo’s, absieht, ist jeder Satz dieser Bücher geschichtlich; auch die ganze Gesetzgebung, die sie enthalten, wird geschichtlich begründet oder knüpft mindestens in chronistischer Weise an geschilderte Vorgänge an: »der Herr redete mit Mose«, Aaron’s Brandopfer wird vom Herrn verzehrt, Aaron’s Söhne werden während der Gesetzesverkündigung getötet u. s. w., u. s. w.; und gilt es etwas zu erfinden, so knüpft der Schreiber entweder an eine romanhafte Erzählung an, wie im Buche Hiob, oder an eine kühne Geschichtsfälschung, wie im Buche Esther. Durch dieses Vor- walten des chronistischen Elementes unterscheidet sich die Bibel von allen anderen bekannten heiligen Büchern. Was es an Religion ent- hält, tritt als Bestandteil einer historischen Erzählung auf, nicht um-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0256"n="233"/><fwplace="top"type="header">Die Erscheinung Christi.</fw><lb/>
des jüdischen Nationalcharakters in Betracht: die <hirendition="#g">geschichtliche</hi><lb/>
Auffassung der Religion und das Vorwiegen des <hirendition="#g">Willens.</hi> Diese<lb/>
zwei Züge stehen zu einander in genetischem Zusammenhang, wie<lb/>
wir gleich sehen werden. Der erste hat namentlich das Lebens-<lb/>
schicksal Christi und das Schicksal seines Angedenkens tief beeinflusst,<lb/>
im letzteren wurzelt seine Sittenlehre. Wer an diesen Dingen nicht<lb/>
achtlos vorübergeht, wird Aufschluss über manche der tiefsten und<lb/>
schwierigsten Fragen in der Geschichte des Christentums und über<lb/>
manche der unlösbaren inneren Widersprüche unserer religiösen<lb/>
Tendenzen bis auf den heutigen Tag erhalten.</p><lb/><p>Von den vielen semitischen Völkerschaften hat eine einzige sich<noteplace="right">Geschichtliche<lb/>
Religion.</note><lb/>
als nationale Einheit erhalten, und zwar eine der kleinsten und<lb/>
politisch ohnmächtigsten; dieses kleine Volk hat allen Stürmen ge-<lb/>
trotzt und steht heute als Unikum unter den Menschen da: ohne<lb/>
Vaterland, ohne Oberhaupt, durch die ganze Welt zerstreut, den ver-<lb/>
schiedensten Nationalitäten eingereiht, und dennoch einig und einheits-<lb/>
bewusst. Dieses Wunder ist das Werk eines <hirendition="#g">Buches,</hi> der <hirendition="#i">Thora</hi><lb/>
(mit allem was sich im Laufe der Zeit bis hinunter zu unseren Tagen<lb/>
ergänzend hinzufügte). Dieses Buch aber muss als das Erzeugnis<lb/>
einer ganz eigenartigen Volksseele betrachtet werden, welche in einem<lb/>
kritischen Augenblicke von einzelnen zielbewussten, bedeutenden<lb/>
Männern diesen bestimmten Weg gewiesen wurde. In dem zweit-<lb/>
nächsten Kapitel werde ich auf die Entstehung und Bedeutung<lb/>
dieser kanonischen Schriften näher einzugehen haben. Vorderhand<lb/>
will ich einzig darauf die Aufmerksamkeit lenken, dass das Alte<lb/>
Testament ein <hirendition="#g">rein geschichtliches</hi> Werk ist. Wenn man von<lb/>
einzelnen späten und im Grunde genommen durchaus unwesentlichen<lb/>
Beigaben, wie den sogenannten <hirendition="#i">Sprüchen Salomo’s,</hi> absieht, ist jeder<lb/>
Satz dieser Bücher geschichtlich; auch die ganze Gesetzgebung, die<lb/>
sie enthalten, wird geschichtlich begründet oder knüpft mindestens<lb/>
in chronistischer Weise an geschilderte Vorgänge an: »der Herr redete<lb/>
mit Mose«, Aaron’s Brandopfer wird vom Herrn verzehrt, Aaron’s<lb/>
Söhne werden während der Gesetzesverkündigung getötet u. s. w., u. s. w.;<lb/>
und gilt es etwas zu erfinden, so knüpft der Schreiber entweder an<lb/>
eine romanhafte Erzählung an, wie im Buche <hirendition="#i">Hiob,</hi> oder an eine<lb/>
kühne Geschichtsfälschung, wie im Buche <hirendition="#i">Esther.</hi> Durch dieses Vor-<lb/>
walten des chronistischen Elementes unterscheidet sich die Bibel von<lb/>
allen anderen bekannten heiligen Büchern. Was es an Religion ent-<lb/>
hält, tritt als Bestandteil einer historischen Erzählung auf, nicht um-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[233/0256]
Die Erscheinung Christi.
des jüdischen Nationalcharakters in Betracht: die geschichtliche
Auffassung der Religion und das Vorwiegen des Willens. Diese
zwei Züge stehen zu einander in genetischem Zusammenhang, wie
wir gleich sehen werden. Der erste hat namentlich das Lebens-
schicksal Christi und das Schicksal seines Angedenkens tief beeinflusst,
im letzteren wurzelt seine Sittenlehre. Wer an diesen Dingen nicht
achtlos vorübergeht, wird Aufschluss über manche der tiefsten und
schwierigsten Fragen in der Geschichte des Christentums und über
manche der unlösbaren inneren Widersprüche unserer religiösen
Tendenzen bis auf den heutigen Tag erhalten.
Von den vielen semitischen Völkerschaften hat eine einzige sich
als nationale Einheit erhalten, und zwar eine der kleinsten und
politisch ohnmächtigsten; dieses kleine Volk hat allen Stürmen ge-
trotzt und steht heute als Unikum unter den Menschen da: ohne
Vaterland, ohne Oberhaupt, durch die ganze Welt zerstreut, den ver-
schiedensten Nationalitäten eingereiht, und dennoch einig und einheits-
bewusst. Dieses Wunder ist das Werk eines Buches, der Thora
(mit allem was sich im Laufe der Zeit bis hinunter zu unseren Tagen
ergänzend hinzufügte). Dieses Buch aber muss als das Erzeugnis
einer ganz eigenartigen Volksseele betrachtet werden, welche in einem
kritischen Augenblicke von einzelnen zielbewussten, bedeutenden
Männern diesen bestimmten Weg gewiesen wurde. In dem zweit-
nächsten Kapitel werde ich auf die Entstehung und Bedeutung
dieser kanonischen Schriften näher einzugehen haben. Vorderhand
will ich einzig darauf die Aufmerksamkeit lenken, dass das Alte
Testament ein rein geschichtliches Werk ist. Wenn man von
einzelnen späten und im Grunde genommen durchaus unwesentlichen
Beigaben, wie den sogenannten Sprüchen Salomo’s, absieht, ist jeder
Satz dieser Bücher geschichtlich; auch die ganze Gesetzgebung, die
sie enthalten, wird geschichtlich begründet oder knüpft mindestens
in chronistischer Weise an geschilderte Vorgänge an: »der Herr redete
mit Mose«, Aaron’s Brandopfer wird vom Herrn verzehrt, Aaron’s
Söhne werden während der Gesetzesverkündigung getötet u. s. w., u. s. w.;
und gilt es etwas zu erfinden, so knüpft der Schreiber entweder an
eine romanhafte Erzählung an, wie im Buche Hiob, oder an eine
kühne Geschichtsfälschung, wie im Buche Esther. Durch dieses Vor-
walten des chronistischen Elementes unterscheidet sich die Bibel von
allen anderen bekannten heiligen Büchern. Was es an Religion ent-
hält, tritt als Bestandteil einer historischen Erzählung auf, nicht um-
Geschichtliche
Religion.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/256>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.