Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Erbe der alten Welt.
besass jeder Gott eine so ausgeprägte Physiognomie, er war durch Dich-
tung und Bildnerei etwas so ganz Individuelles geworden, dass Keiner es
vermocht hätte, ihn über Nacht zu verwandeln; oder aber (wie Brah-
man in Indien) die Vorstellung von ihm war nach und nach so
sublimiert worden, dass zu einer lebensvollen Neugestaltung nichts übrig
blieb. Bei den Juden war beides nicht der Fall: zwar war Jahve
eine ungemein konkrete, ja, eine durchaus historische Vorstellung,
insofern eine weit greifbarere Gestalt als sie je der phantasievolle Arier
besessen; zugleich durfte er aber gar nicht vorgestellt werden, weder
im Bilde noch durch das Wort.1) Das religiöse Genie der Menschheit
fand also hier tabula rasa. Den historischen Jahve brauchte Christus
ebensowenig zu vernichten wie das jüdische "Gesetz"; weder der
Eine noch das Andere haben einen unmittelbaren Bezug auf echte
Religion; ebenso aber wie er durch jene innere "Umkehr" das
sogenannte Gesetz in der That von Grund und Boden aus zu einem
neuen Gesetz umbaute, ebenso benutzte er die konkrete Abstraktion
des jüdischen Gottes, um der Welt eine durchaus neue Vorstellung
von Gott
zu geben. Man redet von Anthropomorphismus! Kann
denn der Mensch anders handeln und denken als wie ein Anthropos? Diese
neue Vorstellung der Gottheit unterschied sich jedoch von anderen
erhabenen Intuitionen dadurch, dass das Bild weder mit den schil-
lernden Farben des Symbolismus, noch mit dem ätzenden Griffel des
Gedankens hingemalt, sondern gewissermassen auf einem Spiegel im
innersten Gemüte aufgefangen wurde, Jedem der Augen hat zu sehen,
fortan ein unmittelbar eigenes Erlebnis. -- Sicherlich hätte dieses
neue Ideal an keinem anderen Orte aufgestellt werden können, als
an jenem einzigen, wo der Gottesgedanke fanatisch festgehalten und
zugleich gänzlich unausgebildet geblieben war.

Bisher haben wir das Augenmerk auf dasjenige gerichtet, was
Christus vom Judentum trennt oder wenigstens unterscheidet; es wäre
einseitig, wollten wir es dabei bewenden lassen. Sowohl sein Schicksal,
wie auch die Hauptrichtung seines Denkens ist eng mit echt jüdischem
Leben und Charakter verwachsen. Er überragt seine Umgebung,
gehört ihr aber doch an. Hier kommen namentlich zwei Grundzüge

1) Als in sehr später Zeit die Juden dem Drange nach Vorstellung doch
nicht ganz widerstehen konnten, suchten sie den Mangel an Gestaltungskraft durch
orientalischen Wortschwall zu verdecken, wovon man in Hesekiel, Kap. I, ein
Beispiel sehen kann.

Das Erbe der alten Welt.
besass jeder Gott eine so ausgeprägte Physiognomie, er war durch Dich-
tung und Bildnerei etwas so ganz Individuelles geworden, dass Keiner es
vermocht hätte, ihn über Nacht zu verwandeln; oder aber (wie Brah-
man in Indien) die Vorstellung von ihm war nach und nach so
sublimiert worden, dass zu einer lebensvollen Neugestaltung nichts übrig
blieb. Bei den Juden war beides nicht der Fall: zwar war Jahve
eine ungemein konkrete, ja, eine durchaus historische Vorstellung,
insofern eine weit greifbarere Gestalt als sie je der phantasievolle Arier
besessen; zugleich durfte er aber gar nicht vorgestellt werden, weder
im Bilde noch durch das Wort.1) Das religiöse Genie der Menschheit
fand also hier tabula rasa. Den historischen Jahve brauchte Christus
ebensowenig zu vernichten wie das jüdische »Gesetz«; weder der
Eine noch das Andere haben einen unmittelbaren Bezug auf echte
Religion; ebenso aber wie er durch jene innere »Umkehr« das
sogenannte Gesetz in der That von Grund und Boden aus zu einem
neuen Gesetz umbaute, ebenso benutzte er die konkrete Abstraktion
des jüdischen Gottes, um der Welt eine durchaus neue Vorstellung
von Gott
zu geben. Man redet von Anthropomorphismus! Kann
denn der Mensch anders handeln und denken als wie ein Anthropos? Diese
neue Vorstellung der Gottheit unterschied sich jedoch von anderen
erhabenen Intuitionen dadurch, dass das Bild weder mit den schil-
lernden Farben des Symbolismus, noch mit dem ätzenden Griffel des
Gedankens hingemalt, sondern gewissermassen auf einem Spiegel im
innersten Gemüte aufgefangen wurde, Jedem der Augen hat zu sehen,
fortan ein unmittelbar eigenes Erlebnis. — Sicherlich hätte dieses
neue Ideal an keinem anderen Orte aufgestellt werden können, als
an jenem einzigen, wo der Gottesgedanke fanatisch festgehalten und
zugleich gänzlich unausgebildet geblieben war.

Bisher haben wir das Augenmerk auf dasjenige gerichtet, was
Christus vom Judentum trennt oder wenigstens unterscheidet; es wäre
einseitig, wollten wir es dabei bewenden lassen. Sowohl sein Schicksal,
wie auch die Hauptrichtung seines Denkens ist eng mit echt jüdischem
Leben und Charakter verwachsen. Er überragt seine Umgebung,
gehört ihr aber doch an. Hier kommen namentlich zwei Grundzüge

1) Als in sehr später Zeit die Juden dem Drange nach Vorstellung doch
nicht ganz widerstehen konnten, suchten sie den Mangel an Gestaltungskraft durch
orientalischen Wortschwall zu verdecken, wovon man in Hesekiel, Kap. I, ein
Beispiel sehen kann.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0255" n="232"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/>
besass jeder Gott eine so ausgeprägte Physiognomie, er war durch Dich-<lb/>
tung und Bildnerei etwas so ganz Individuelles geworden, dass Keiner es<lb/>
vermocht hätte, ihn über Nacht zu verwandeln; oder aber (wie Brah-<lb/>
man in Indien) die Vorstellung von ihm war nach und nach so<lb/>
sublimiert worden, dass zu einer lebensvollen Neugestaltung nichts übrig<lb/>
blieb. Bei den Juden war beides nicht der Fall: zwar war Jahve<lb/>
eine ungemein konkrete, ja, eine durchaus <hi rendition="#g">historische</hi> Vorstellung,<lb/>
insofern eine weit greifbarere Gestalt als sie je der phantasievolle Arier<lb/>
besessen; zugleich durfte er aber gar nicht vorgestellt werden, weder<lb/>
im Bilde noch durch das Wort.<note place="foot" n="1)">Als in sehr später Zeit die Juden dem Drange nach Vorstellung doch<lb/>
nicht ganz widerstehen konnten, suchten sie den Mangel an Gestaltungskraft durch<lb/>
orientalischen Wortschwall zu verdecken, wovon man in Hesekiel, Kap. I, ein<lb/>
Beispiel sehen kann.</note> Das religiöse Genie der Menschheit<lb/>
fand also hier <hi rendition="#i">tabula rasa.</hi> Den historischen Jahve brauchte Christus<lb/>
ebensowenig zu vernichten wie das jüdische »Gesetz«; weder der<lb/>
Eine noch das Andere haben einen unmittelbaren Bezug auf echte<lb/><hi rendition="#g">Religion;</hi> ebenso aber wie er durch jene innere »Umkehr« das<lb/>
sogenannte Gesetz in der That von Grund und Boden aus zu einem<lb/>
neuen Gesetz umbaute, ebenso benutzte er die konkrete Abstraktion<lb/>
des jüdischen Gottes, um der Welt <hi rendition="#g">eine durchaus neue Vorstellung<lb/>
von Gott</hi> zu geben. Man redet von Anthropomorphismus! Kann<lb/>
denn der Mensch anders handeln und denken als wie ein Anthropos? Diese<lb/>
neue Vorstellung der Gottheit unterschied sich jedoch von anderen<lb/>
erhabenen Intuitionen dadurch, dass das Bild weder mit den schil-<lb/>
lernden Farben des Symbolismus, noch mit dem ätzenden Griffel des<lb/>
Gedankens hingemalt, sondern gewissermassen auf einem Spiegel im<lb/>
innersten Gemüte aufgefangen wurde, Jedem der Augen hat zu sehen,<lb/>
fortan ein unmittelbar eigenes Erlebnis. &#x2014; Sicherlich hätte dieses<lb/>
neue Ideal an keinem anderen Orte aufgestellt werden können, als<lb/>
an jenem einzigen, wo der Gottesgedanke fanatisch festgehalten und<lb/>
zugleich gänzlich unausgebildet geblieben war.</p><lb/>
            <p>Bisher haben wir das Augenmerk auf dasjenige gerichtet, was<lb/>
Christus vom Judentum trennt oder wenigstens unterscheidet; es wäre<lb/>
einseitig, wollten wir es dabei bewenden lassen. Sowohl sein Schicksal,<lb/>
wie auch die Hauptrichtung seines Denkens ist eng mit echt jüdischem<lb/>
Leben und Charakter verwachsen. Er überragt seine Umgebung,<lb/>
gehört ihr aber doch an. Hier kommen namentlich zwei Grundzüge<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0255] Das Erbe der alten Welt. besass jeder Gott eine so ausgeprägte Physiognomie, er war durch Dich- tung und Bildnerei etwas so ganz Individuelles geworden, dass Keiner es vermocht hätte, ihn über Nacht zu verwandeln; oder aber (wie Brah- man in Indien) die Vorstellung von ihm war nach und nach so sublimiert worden, dass zu einer lebensvollen Neugestaltung nichts übrig blieb. Bei den Juden war beides nicht der Fall: zwar war Jahve eine ungemein konkrete, ja, eine durchaus historische Vorstellung, insofern eine weit greifbarere Gestalt als sie je der phantasievolle Arier besessen; zugleich durfte er aber gar nicht vorgestellt werden, weder im Bilde noch durch das Wort. 1) Das religiöse Genie der Menschheit fand also hier tabula rasa. Den historischen Jahve brauchte Christus ebensowenig zu vernichten wie das jüdische »Gesetz«; weder der Eine noch das Andere haben einen unmittelbaren Bezug auf echte Religion; ebenso aber wie er durch jene innere »Umkehr« das sogenannte Gesetz in der That von Grund und Boden aus zu einem neuen Gesetz umbaute, ebenso benutzte er die konkrete Abstraktion des jüdischen Gottes, um der Welt eine durchaus neue Vorstellung von Gott zu geben. Man redet von Anthropomorphismus! Kann denn der Mensch anders handeln und denken als wie ein Anthropos? Diese neue Vorstellung der Gottheit unterschied sich jedoch von anderen erhabenen Intuitionen dadurch, dass das Bild weder mit den schil- lernden Farben des Symbolismus, noch mit dem ätzenden Griffel des Gedankens hingemalt, sondern gewissermassen auf einem Spiegel im innersten Gemüte aufgefangen wurde, Jedem der Augen hat zu sehen, fortan ein unmittelbar eigenes Erlebnis. — Sicherlich hätte dieses neue Ideal an keinem anderen Orte aufgestellt werden können, als an jenem einzigen, wo der Gottesgedanke fanatisch festgehalten und zugleich gänzlich unausgebildet geblieben war. Bisher haben wir das Augenmerk auf dasjenige gerichtet, was Christus vom Judentum trennt oder wenigstens unterscheidet; es wäre einseitig, wollten wir es dabei bewenden lassen. Sowohl sein Schicksal, wie auch die Hauptrichtung seines Denkens ist eng mit echt jüdischem Leben und Charakter verwachsen. Er überragt seine Umgebung, gehört ihr aber doch an. Hier kommen namentlich zwei Grundzüge 1) Als in sehr später Zeit die Juden dem Drange nach Vorstellung doch nicht ganz widerstehen konnten, suchten sie den Mangel an Gestaltungskraft durch orientalischen Wortschwall zu verdecken, wovon man in Hesekiel, Kap. I, ein Beispiel sehen kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/255
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/255>, abgerufen am 23.11.2024.