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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
bei Christus. Mit Verehrung, doch ohne Fanatismus spricht er von
ihr. Wie er die Schrift seinem Zwecke dienstbar macht, ist sogar
sehr merkwürdig; auch über sie fühlt er sich "Herr" und verwandelt
sie, wo es Not thut, in ihr Gegenteil. Das "ganze Gesetz und die
Propheten" könne man, meint er, in dem einen Gebot aussprechen:
liebe Gott und deinen Nächsten. Das hört sich fast wie erhabene
Ironie an, namentlich wenn wir bedenken, dass Christus hier die
Furcht vor Gott, welche doch (und nicht die Liebe zu ihm) die
Grundlage der ganzen jüdischen Religion abgiebt, mit keiner Silbe
erwähnt. "Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang", singt der
Psalmist. "Verbirg dich in der Erde vor der Furcht des Herrn und
vor seiner Majestät", ruft Jesaia den Israeliten zu, und selbst Jeremia
schien vergessen zu haben, dass es ein Gesetz giebt wonach man
Gott "von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und
von ganzem Gemüt lieben soll"1) und hatte Jahve zu seinem

1) Im fünften Buche Mose (Deuteronomium VI, 5) finden sich allerdings ähnliche
Worte wie diese von Christus angeführten (aus Matthäus XXII, 37), aber -- man
übersehe doch nicht den Zusammenhang! Vor dem Gebot zu lieben (für unser Gefühl
schon eine eigentümliche Vorstellung: auf Befehl lieben) steht als erstes und wichtigstes
Gebot (Vers 2): "Du sollst den Herrn, deinen Gott, fürchten und alle seine
Rechte und Gebote halten"; das Gebot der Liebe ist nur ein Gebot unter anderen,
die der Jude halten soll; und gleich darauf kommt die Belohnung für diese Liebe
(Vers 10 fg.): "Ich werde dir grosse und feine Städte geben, die du nicht gebauet
hast, und Häuser alles Gutes voll, die du nicht gefüllet hast, und ausgehauene
Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge, die du nicht
gepflanzt hast u. s. w." Das ist eine Art von Liebe wie die, welche heute so
manche Ehe stiftet! Jedenfalls erschiene die "Liebe zum Nächsten" in einem eigen-
tümlichen Licht, wenn man nicht wüsste, dass nach dem jüdischen Gesetz nur der
Jude dem Juden ein "Nächster" ist; wie es denn am selben Ort, Kap. VII, 16
heisst: "Du wirst alle Völker fressen, die der Herr, dein Gott, dir geben wird!"
Dieser Kommentar zum Gebot der Nächstenliebe macht jede weitere Bemerkung
überflüssig. Damit aber Niemand im Unklaren bleibe, was die Juden auch später
unter diesem Befehl, Gott von Herzen zu lieben, verstanden, will ich noch den
Kommentar des Talmud (Jomah, Abschn. 8) zu jener Stelle des Gesetzes, Deuter.
VI, 5 anführen: "Hierin wird gelehrt: dein Betragen soll so beschaffen sein, dass
der Name Gottes durch dich geliebt werde; der Mensch soll nämlich mit der Er-
forschung der heiligen Schrift und der Mischnah sich beschäftigen und Umgang
pflegen mit gelehrten und weisen Männern; seine Sprache sei sanft, sein sonstiges
Verhalten angemessen und im Handel und Verkehre mit seinen Mitmenschen be-
fleissige er sich der Ehrlichkeit und Redlichkeit. Was werden da die Leute sagen?
Heil diesem Menschen, der sich mit der Erforschung der heiligen Lehre beschäftigt
hat!" (Nach der Verdeutschung des Juden Seligmann Grünwald in der Jüdischen
Universal-Bibliothek,
Heft 34, 35, S. 86). Im Buche Sota des jerusalemischen Talmuds

Das Erbe der alten Welt.
bei Christus. Mit Verehrung, doch ohne Fanatismus spricht er von
ihr. Wie er die Schrift seinem Zwecke dienstbar macht, ist sogar
sehr merkwürdig; auch über sie fühlt er sich »Herr« und verwandelt
sie, wo es Not thut, in ihr Gegenteil. Das »ganze Gesetz und die
Propheten« könne man, meint er, in dem einen Gebot aussprechen:
liebe Gott und deinen Nächsten. Das hört sich fast wie erhabene
Ironie an, namentlich wenn wir bedenken, dass Christus hier die
Furcht vor Gott, welche doch (und nicht die Liebe zu ihm) die
Grundlage der ganzen jüdischen Religion abgiebt, mit keiner Silbe
erwähnt. »Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang«, singt der
Psalmist. »Verbirg dich in der Erde vor der Furcht des Herrn und
vor seiner Majestät«, ruft Jesaia den Israeliten zu, und selbst Jeremia
schien vergessen zu haben, dass es ein Gesetz giebt wonach man
Gott »von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und
von ganzem Gemüt lieben soll«1) und hatte Jahve zu seinem

1) Im fünften Buche Mose (Deuteronomium VI, 5) finden sich allerdings ähnliche
Worte wie diese von Christus angeführten (aus Matthäus XXII, 37), aber — man
übersehe doch nicht den Zusammenhang! Vor dem Gebot zu lieben (für unser Gefühl
schon eine eigentümliche Vorstellung: auf Befehl lieben) steht als erstes und wichtigstes
Gebot (Vers 2): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, fürchten und alle seine
Rechte und Gebote halten«; das Gebot der Liebe ist nur ein Gebot unter anderen,
die der Jude halten soll; und gleich darauf kommt die Belohnung für diese Liebe
(Vers 10 fg.): »Ich werde dir grosse und feine Städte geben, die du nicht gebauet
hast, und Häuser alles Gutes voll, die du nicht gefüllet hast, und ausgehauene
Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge, die du nicht
gepflanzt hast u. s. w.« Das ist eine Art von Liebe wie die, welche heute so
manche Ehe stiftet! Jedenfalls erschiene die »Liebe zum Nächsten« in einem eigen-
tümlichen Licht, wenn man nicht wüsste, dass nach dem jüdischen Gesetz nur der
Jude dem Juden ein »Nächster« ist; wie es denn am selben Ort, Kap. VII, 16
heisst: »Du wirst alle Völker fressen, die der Herr, dein Gott, dir geben wird!«
Dieser Kommentar zum Gebot der Nächstenliebe macht jede weitere Bemerkung
überflüssig. Damit aber Niemand im Unklaren bleibe, was die Juden auch später
unter diesem Befehl, Gott von Herzen zu lieben, verstanden, will ich noch den
Kommentar des Talmud (Jomah, Abschn. 8) zu jener Stelle des Gesetzes, Deuter.
VI, 5 anführen: »Hierin wird gelehrt: dein Betragen soll so beschaffen sein, dass
der Name Gottes durch dich geliebt werde; der Mensch soll nämlich mit der Er-
forschung der heiligen Schrift und der Mischnah sich beschäftigen und Umgang
pflegen mit gelehrten und weisen Männern; seine Sprache sei sanft, sein sonstiges
Verhalten angemessen und im Handel und Verkehre mit seinen Mitmenschen be-
fleissige er sich der Ehrlichkeit und Redlichkeit. Was werden da die Leute sagen?
Heil diesem Menschen, der sich mit der Erforschung der heiligen Lehre beschäftigt
hat!« (Nach der Verdeutschung des Juden Seligmann Grünwald in der Jüdischen
Universal-Bibliothek,
Heft 34, 35, S. 86). Im Buche Sota des jerusalemischen Talmuds
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[228/0251] Das Erbe der alten Welt. bei Christus. Mit Verehrung, doch ohne Fanatismus spricht er von ihr. Wie er die Schrift seinem Zwecke dienstbar macht, ist sogar sehr merkwürdig; auch über sie fühlt er sich »Herr« und verwandelt sie, wo es Not thut, in ihr Gegenteil. Das »ganze Gesetz und die Propheten« könne man, meint er, in dem einen Gebot aussprechen: liebe Gott und deinen Nächsten. Das hört sich fast wie erhabene Ironie an, namentlich wenn wir bedenken, dass Christus hier die Furcht vor Gott, welche doch (und nicht die Liebe zu ihm) die Grundlage der ganzen jüdischen Religion abgiebt, mit keiner Silbe erwähnt. »Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang«, singt der Psalmist. »Verbirg dich in der Erde vor der Furcht des Herrn und vor seiner Majestät«, ruft Jesaia den Israeliten zu, und selbst Jeremia schien vergessen zu haben, dass es ein Gesetz giebt wonach man Gott »von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt lieben soll« 1) und hatte Jahve zu seinem 1) Im fünften Buche Mose (Deuteronomium VI, 5) finden sich allerdings ähnliche Worte wie diese von Christus angeführten (aus Matthäus XXII, 37), aber — man übersehe doch nicht den Zusammenhang! Vor dem Gebot zu lieben (für unser Gefühl schon eine eigentümliche Vorstellung: auf Befehl lieben) steht als erstes und wichtigstes Gebot (Vers 2): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, fürchten und alle seine Rechte und Gebote halten«; das Gebot der Liebe ist nur ein Gebot unter anderen, die der Jude halten soll; und gleich darauf kommt die Belohnung für diese Liebe (Vers 10 fg.): »Ich werde dir grosse und feine Städte geben, die du nicht gebauet hast, und Häuser alles Gutes voll, die du nicht gefüllet hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge, die du nicht gepflanzt hast u. s. w.« Das ist eine Art von Liebe wie die, welche heute so manche Ehe stiftet! Jedenfalls erschiene die »Liebe zum Nächsten« in einem eigen- tümlichen Licht, wenn man nicht wüsste, dass nach dem jüdischen Gesetz nur der Jude dem Juden ein »Nächster« ist; wie es denn am selben Ort, Kap. VII, 16 heisst: »Du wirst alle Völker fressen, die der Herr, dein Gott, dir geben wird!« Dieser Kommentar zum Gebot der Nächstenliebe macht jede weitere Bemerkung überflüssig. Damit aber Niemand im Unklaren bleibe, was die Juden auch später unter diesem Befehl, Gott von Herzen zu lieben, verstanden, will ich noch den Kommentar des Talmud (Jomah, Abschn. 8) zu jener Stelle des Gesetzes, Deuter. VI, 5 anführen: »Hierin wird gelehrt: dein Betragen soll so beschaffen sein, dass der Name Gottes durch dich geliebt werde; der Mensch soll nämlich mit der Er- forschung der heiligen Schrift und der Mischnah sich beschäftigen und Umgang pflegen mit gelehrten und weisen Männern; seine Sprache sei sanft, sein sonstiges Verhalten angemessen und im Handel und Verkehre mit seinen Mitmenschen be- fleissige er sich der Ehrlichkeit und Redlichkeit. Was werden da die Leute sagen? Heil diesem Menschen, der sich mit der Erforschung der heiligen Lehre beschäftigt hat!« (Nach der Verdeutschung des Juden Seligmann Grünwald in der Jüdischen Universal-Bibliothek, Heft 34, 35, S. 86). Im Buche Sota des jerusalemischen Talmuds

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/251>, abgerufen am 01.09.2024.