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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.

Wer Christi Erscheinung erblicken will, der reisse sich also diesenChristus
kein Jude.

dunkelsten Schleier energisch von den Augen hinweg. Diese Er-
scheinung ist nicht die Vollendung der jüdischen Religion, sondern
ihre Verneinung. Dort gerade, wo das Gemüt den geringsten Platz
in den religiösen Vorstellungen einnahm, dort trat ein neues Religions-
ideal auf, welches -- im Unterschied von anderen grossen Versuchen
das innere Leben, sei es in Gedanken, sei es in Bildern, zu erfassen --
das ganze Gewicht dieses "Lebens im Geist und in der Wahrheit" in
das Gemüt legte. Das Verhältnis zur jüdischen Religion könnte
höchstens als eine Reaktion aufgefasst werden; das Gemüt ist, wie
wir sahen, der Urquell aller echten Religion; gerade dieser Quell war
den Juden durch ihren Formalismus und durch ihren hartherzigen
Rationalismus fast zugeschüttet; auf ihn greift nun Christus zurück. --
Wenige Dinge lassen so tief in das göttliche Herz Christi blicken wie
sein Verhalten den jüdischen Religionsgesetzen gegenüber. Er beob-
achtet sie, doch ohne Eifer und ohne irgend einen Nachdruck darauf
zu legen, sind sie doch im besten Falle nur ein Gefäss, das, ohne
Inhalt, leer bliebe; und sobald ein Gesetz den Weg versperrt, den er
zu gehen hat, da knickt er es ohne die geringste Rücksicht, jedoch
ebenfalls ruhig und ohne Zorn: was hat denn das alles mit Religion
zu thun! "Der Mensch1) ist ein Herr, auch über den Sabbath": für
den Juden freilich war einzig Jahve ein Herr gewesen, der Mensch
sein Knecht. Über die jüdischen Speisegesetze (ein so wichtiger Punkt
ihrer Religion, dass der Streit über ihre Verbindlichkeit sich noch in
das frühe Christentum fortpflanzte) urteilt Christus: "Was zum Munde
eingehet, das verunreiniget den Menschen nicht; sondern was zum
Munde ausgehet, das verunreiniget den Menschen. Denn was zum
Munde herausgehet, das kommt aus dem Herzen und das verunreiniget
den Menschen."2) Dahin gehört auch die Verwendung der Schrift

dem alten Testament; was es aber bei Christus zu kaufen giebt, ist mir unklar,
da sein Beispiel einzig und allein eine innere Umkehr lehrt.
1) Folgende Belehrung über den Ausdruck "Menschensohn" ist wichtig:
"Die messianische Deutung des Ausdrucks Menschensohn stammt erst von den
griechischen Übersetzern des Evangeliums. Da Jesus aramäisch gesprochen hat, so
hat er nicht o uios tou anthropou gesagt, sondern barnascha. Das bedeutet aber
der Mensch und nichts weiter, die Aramäer haben keinen anderen Ausdruck für
den Begriff" (Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg., S. 381).
2) "Ist der Mensch unrein, so ist er es, weil er die Unwahrheit redet",
sagten die Opfervorschriften der arischen Inder, schon 1000 Jahre vor Christo
(Satapatha-Brahmana, erster Vers der ersten Abteilung des ersten Buches).
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Die Erscheinung Christi.

Wer Christi Erscheinung erblicken will, der reisse sich also diesenChristus
kein Jude.

dunkelsten Schleier energisch von den Augen hinweg. Diese Er-
scheinung ist nicht die Vollendung der jüdischen Religion, sondern
ihre Verneinung. Dort gerade, wo das Gemüt den geringsten Platz
in den religiösen Vorstellungen einnahm, dort trat ein neues Religions-
ideal auf, welches — im Unterschied von anderen grossen Versuchen
das innere Leben, sei es in Gedanken, sei es in Bildern, zu erfassen —
das ganze Gewicht dieses »Lebens im Geist und in der Wahrheit« in
das Gemüt legte. Das Verhältnis zur jüdischen Religion könnte
höchstens als eine Reaktion aufgefasst werden; das Gemüt ist, wie
wir sahen, der Urquell aller echten Religion; gerade dieser Quell war
den Juden durch ihren Formalismus und durch ihren hartherzigen
Rationalismus fast zugeschüttet; auf ihn greift nun Christus zurück. —
Wenige Dinge lassen so tief in das göttliche Herz Christi blicken wie
sein Verhalten den jüdischen Religionsgesetzen gegenüber. Er beob-
achtet sie, doch ohne Eifer und ohne irgend einen Nachdruck darauf
zu legen, sind sie doch im besten Falle nur ein Gefäss, das, ohne
Inhalt, leer bliebe; und sobald ein Gesetz den Weg versperrt, den er
zu gehen hat, da knickt er es ohne die geringste Rücksicht, jedoch
ebenfalls ruhig und ohne Zorn: was hat denn das alles mit Religion
zu thun! »Der Mensch1) ist ein Herr, auch über den Sabbath«: für
den Juden freilich war einzig Jahve ein Herr gewesen, der Mensch
sein Knecht. Über die jüdischen Speisegesetze (ein so wichtiger Punkt
ihrer Religion, dass der Streit über ihre Verbindlichkeit sich noch in
das frühe Christentum fortpflanzte) urteilt Christus: »Was zum Munde
eingehet, das verunreiniget den Menschen nicht; sondern was zum
Munde ausgehet, das verunreiniget den Menschen. Denn was zum
Munde herausgehet, das kommt aus dem Herzen und das verunreiniget
den Menschen.«2) Dahin gehört auch die Verwendung der Schrift

dem alten Testament; was es aber bei Christus zu kaufen giebt, ist mir unklar,
da sein Beispiel einzig und allein eine innere Umkehr lehrt.
1) Folgende Belehrung über den Ausdruck »Menschensohn« ist wichtig:
»Die messianische Deutung des Ausdrucks Menschensohn stammt erst von den
griechischen Übersetzern des Evangeliums. Da Jesus aramäisch gesprochen hat, so
hat er nicht ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου gesagt, sondern barnascha. Das bedeutet aber
der Mensch und nichts weiter, die Aramäer haben keinen anderen Ausdruck für
den Begriff« (Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg., S. 381).
2) »Ist der Mensch unrein, so ist er es, weil er die Unwahrheit redet«,
sagten die Opfervorschriften der arischen Inder, schon 1000 Jahre vor Christo
(Satapatha-Brâhmana, erster Vers der ersten Abteilung des ersten Buches).
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[227/0250] Die Erscheinung Christi. Wer Christi Erscheinung erblicken will, der reisse sich also diesen dunkelsten Schleier energisch von den Augen hinweg. Diese Er- scheinung ist nicht die Vollendung der jüdischen Religion, sondern ihre Verneinung. Dort gerade, wo das Gemüt den geringsten Platz in den religiösen Vorstellungen einnahm, dort trat ein neues Religions- ideal auf, welches — im Unterschied von anderen grossen Versuchen das innere Leben, sei es in Gedanken, sei es in Bildern, zu erfassen — das ganze Gewicht dieses »Lebens im Geist und in der Wahrheit« in das Gemüt legte. Das Verhältnis zur jüdischen Religion könnte höchstens als eine Reaktion aufgefasst werden; das Gemüt ist, wie wir sahen, der Urquell aller echten Religion; gerade dieser Quell war den Juden durch ihren Formalismus und durch ihren hartherzigen Rationalismus fast zugeschüttet; auf ihn greift nun Christus zurück. — Wenige Dinge lassen so tief in das göttliche Herz Christi blicken wie sein Verhalten den jüdischen Religionsgesetzen gegenüber. Er beob- achtet sie, doch ohne Eifer und ohne irgend einen Nachdruck darauf zu legen, sind sie doch im besten Falle nur ein Gefäss, das, ohne Inhalt, leer bliebe; und sobald ein Gesetz den Weg versperrt, den er zu gehen hat, da knickt er es ohne die geringste Rücksicht, jedoch ebenfalls ruhig und ohne Zorn: was hat denn das alles mit Religion zu thun! »Der Mensch 1) ist ein Herr, auch über den Sabbath«: für den Juden freilich war einzig Jahve ein Herr gewesen, der Mensch sein Knecht. Über die jüdischen Speisegesetze (ein so wichtiger Punkt ihrer Religion, dass der Streit über ihre Verbindlichkeit sich noch in das frühe Christentum fortpflanzte) urteilt Christus: »Was zum Munde eingehet, das verunreiniget den Menschen nicht; sondern was zum Munde ausgehet, das verunreiniget den Menschen. Denn was zum Munde herausgehet, das kommt aus dem Herzen und das verunreiniget den Menschen.« 2) Dahin gehört auch die Verwendung der Schrift 2) Christus kein Jude. 1) Folgende Belehrung über den Ausdruck »Menschensohn« ist wichtig: »Die messianische Deutung des Ausdrucks Menschensohn stammt erst von den griechischen Übersetzern des Evangeliums. Da Jesus aramäisch gesprochen hat, so hat er nicht ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου gesagt, sondern barnascha. Das bedeutet aber der Mensch und nichts weiter, die Aramäer haben keinen anderen Ausdruck für den Begriff« (Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg., S. 381). 2) »Ist der Mensch unrein, so ist er es, weil er die Unwahrheit redet«, sagten die Opfervorschriften der arischen Inder, schon 1000 Jahre vor Christo (Satapatha-Brâhmana, erster Vers der ersten Abteilung des ersten Buches). 2) dem alten Testament; was es aber bei Christus zu kaufen giebt, ist mir unklar, da sein Beispiel einzig und allein eine innere Umkehr lehrt. 15*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/250>, abgerufen am 23.11.2024.