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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
ihn wie eine Puppe an der Nase herumführe! O Mittelalter! wann
wird deine Macht von uns weichen? Wann werden die Menschen es
begreifen, dass Gestalt nicht ein gleichgültiger Zufall ist, sondern
ein Ausdruck des innersten Wesens? dass gerade hier, an diesem
Punkte, die zwei Welten des Inneren und des Äusseren, des Sicht-
baren und des Unsichtbaren sich berühren? Ich nannte die mensch-
liche Persönlichkeit das mysterium magnum des Daseins; in ihrer
sichtbaren Gestalt stellt sich nun dieses unergründliche Wunder dem
Auge und dem forschenden Verstande dar. Und genau so wie die
möglichen Gestalten eines Gebäudes durch die Natur des Baumateriales
in wesentlichen Punkten bestimmt und beschränkt sind, ebenso ist
die mögliche Gestalt eines Menschen, seine innere und seine äussere,
durch die vererbten Bausteine, aus denen diese neue Persönlichkeit
zusammengestellt wird, in Punkten von durchgreifender Wesentlichkeit
bestimmt. Gewiss kann es vorkommen, dass man auf den Begriff
der Rasse zu viel Gewicht legt: damit thut man der Autonomie der
Persönlichkeit Abbruch und läuft Gefahr, die grosse Macht der Ideen
zu unterschätzen; ausserdem ist diese ganze Frage der Rassen unendlich
viel verwickelter als der Laie glaubt, sie gehört ganz und gar in das
Gebiet der anatomischen Anthropologie und kann durch keine Dikta
der Sprach- und Geschichtsforscher gelöst werden. Es geht aber
dennoch nicht an, die Rasse als "quantite negligeable" einfach bei
Seite zu lassen; noch weniger geht es an, etwas direkt Falsches über
die Rasse auszusagen und eine derartige Geschichtslüge zu einem unbe-
streitbaren Dogma sich krystallisieren zu lassen. Wer die Behauptung
aufstellt, Christus sei ein Jude gewesen, sagt entweder eine Dummheit
oder eine Lüge: eine Dummheit, wenn er Religion und Rasse un-
wissend durcheinanderwirft, eine Lüge, wenn er die Geschichte Galiläas
kennt und den höchst verwickelten Thatbestand zu Gunsten seiner
religiösen Vorurteile oder gar, um sich dem mächtigen Judentum
gefällig zu erzeigen, halb verschweigt, halb entstellt.1) Die Wahrschein-

1) Wie soll man es z. B. erklären, dass Renan, der in seinem 1863 er-
schienenen Vie de Jesus sagt, es sei unmöglich, auch nur Vermutungen aufzu-
stellen über die Rasse, der Christus durch sein Blut angehörte (siehe Kap. II), in
dem 1891 vollendeten fünften Band seiner Histoire du Peuple d'Israel die kategorische
Behauptung aufstellt: "Jesus etait un Juif", und mit ungewohnter Heftigkeit über
die Leute herfällt, die das zu bezweifeln wagen? Sollte nicht die Alliance Israelite,
mit der Renan in seinen letzten Lebensjahren in so eifrigem Verkehr stand, hier
ein Wort mitgeredet haben? In unserem Jahrhundert haben wir so viel Schönes

Das Erbe der alten Welt.
ihn wie eine Puppe an der Nase herumführe! O Mittelalter! wann
wird deine Macht von uns weichen? Wann werden die Menschen es
begreifen, dass Gestalt nicht ein gleichgültiger Zufall ist, sondern
ein Ausdruck des innersten Wesens? dass gerade hier, an diesem
Punkte, die zwei Welten des Inneren und des Äusseren, des Sicht-
baren und des Unsichtbaren sich berühren? Ich nannte die mensch-
liche Persönlichkeit das mysterium magnum des Daseins; in ihrer
sichtbaren Gestalt stellt sich nun dieses unergründliche Wunder dem
Auge und dem forschenden Verstande dar. Und genau so wie die
möglichen Gestalten eines Gebäudes durch die Natur des Baumateriales
in wesentlichen Punkten bestimmt und beschränkt sind, ebenso ist
die mögliche Gestalt eines Menschen, seine innere und seine äussere,
durch die vererbten Bausteine, aus denen diese neue Persönlichkeit
zusammengestellt wird, in Punkten von durchgreifender Wesentlichkeit
bestimmt. Gewiss kann es vorkommen, dass man auf den Begriff
der Rasse zu viel Gewicht legt: damit thut man der Autonomie der
Persönlichkeit Abbruch und läuft Gefahr, die grosse Macht der Ideen
zu unterschätzen; ausserdem ist diese ganze Frage der Rassen unendlich
viel verwickelter als der Laie glaubt, sie gehört ganz und gar in das
Gebiet der anatomischen Anthropologie und kann durch keine Dikta
der Sprach- und Geschichtsforscher gelöst werden. Es geht aber
dennoch nicht an, die Rasse als »quantité négligeable« einfach bei
Seite zu lassen; noch weniger geht es an, etwas direkt Falsches über
die Rasse auszusagen und eine derartige Geschichtslüge zu einem unbe-
streitbaren Dogma sich krystallisieren zu lassen. Wer die Behauptung
aufstellt, Christus sei ein Jude gewesen, sagt entweder eine Dummheit
oder eine Lüge: eine Dummheit, wenn er Religion und Rasse un-
wissend durcheinanderwirft, eine Lüge, wenn er die Geschichte Galiläas
kennt und den höchst verwickelten Thatbestand zu Gunsten seiner
religiösen Vorurteile oder gar, um sich dem mächtigen Judentum
gefällig zu erzeigen, halb verschweigt, halb entstellt.1) Die Wahrschein-

1) Wie soll man es z. B. erklären, dass Renan, der in seinem 1863 er-
schienenen Vie de Jésus sagt, es sei unmöglich, auch nur Vermutungen aufzu-
stellen über die Rasse, der Christus durch sein Blut angehörte (siehe Kap. II), in
dem 1891 vollendeten fünften Band seiner Histoire du Peuple d’Israël die kategorische
Behauptung aufstellt: »Jésus était un Juif«, und mit ungewohnter Heftigkeit über
die Leute herfällt, die das zu bezweifeln wagen? Sollte nicht die Alliance Israëlite,
mit der Renan in seinen letzten Lebensjahren in so eifrigem Verkehr stand, hier
ein Wort mitgeredet haben? In unserem Jahrhundert haben wir so viel Schönes
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[218/0241] Das Erbe der alten Welt. ihn wie eine Puppe an der Nase herumführe! O Mittelalter! wann wird deine Macht von uns weichen? Wann werden die Menschen es begreifen, dass Gestalt nicht ein gleichgültiger Zufall ist, sondern ein Ausdruck des innersten Wesens? dass gerade hier, an diesem Punkte, die zwei Welten des Inneren und des Äusseren, des Sicht- baren und des Unsichtbaren sich berühren? Ich nannte die mensch- liche Persönlichkeit das mysterium magnum des Daseins; in ihrer sichtbaren Gestalt stellt sich nun dieses unergründliche Wunder dem Auge und dem forschenden Verstande dar. Und genau so wie die möglichen Gestalten eines Gebäudes durch die Natur des Baumateriales in wesentlichen Punkten bestimmt und beschränkt sind, ebenso ist die mögliche Gestalt eines Menschen, seine innere und seine äussere, durch die vererbten Bausteine, aus denen diese neue Persönlichkeit zusammengestellt wird, in Punkten von durchgreifender Wesentlichkeit bestimmt. Gewiss kann es vorkommen, dass man auf den Begriff der Rasse zu viel Gewicht legt: damit thut man der Autonomie der Persönlichkeit Abbruch und läuft Gefahr, die grosse Macht der Ideen zu unterschätzen; ausserdem ist diese ganze Frage der Rassen unendlich viel verwickelter als der Laie glaubt, sie gehört ganz und gar in das Gebiet der anatomischen Anthropologie und kann durch keine Dikta der Sprach- und Geschichtsforscher gelöst werden. Es geht aber dennoch nicht an, die Rasse als »quantité négligeable« einfach bei Seite zu lassen; noch weniger geht es an, etwas direkt Falsches über die Rasse auszusagen und eine derartige Geschichtslüge zu einem unbe- streitbaren Dogma sich krystallisieren zu lassen. Wer die Behauptung aufstellt, Christus sei ein Jude gewesen, sagt entweder eine Dummheit oder eine Lüge: eine Dummheit, wenn er Religion und Rasse un- wissend durcheinanderwirft, eine Lüge, wenn er die Geschichte Galiläas kennt und den höchst verwickelten Thatbestand zu Gunsten seiner religiösen Vorurteile oder gar, um sich dem mächtigen Judentum gefällig zu erzeigen, halb verschweigt, halb entstellt. 1) Die Wahrschein- 1) Wie soll man es z. B. erklären, dass Renan, der in seinem 1863 er- schienenen Vie de Jésus sagt, es sei unmöglich, auch nur Vermutungen aufzu- stellen über die Rasse, der Christus durch sein Blut angehörte (siehe Kap. II), in dem 1891 vollendeten fünften Band seiner Histoire du Peuple d’Israël die kategorische Behauptung aufstellt: »Jésus était un Juif«, und mit ungewohnter Heftigkeit über die Leute herfällt, die das zu bezweifeln wagen? Sollte nicht die Alliance Israëlite, mit der Renan in seinen letzten Lebensjahren in so eifrigem Verkehr stand, hier ein Wort mitgeredet haben? In unserem Jahrhundert haben wir so viel Schönes

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/241>, abgerufen am 18.05.2024.