Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. Herzen. Der tyrische König Hiram muss es überhaupt wenig be-völkert gefunden haben, da er die Gelegenheit benutzte, um verschiedene fremde Völkerschaften in Galiläa anzusiedeln.1) Dann kam, wie Jeder weiss, die Scheidung in zwei Reiche, und seit jener Zeit, d. h. seit tausend Jahren vor Christus (!) hat nur vorübergehend, hin und wieder, eine innigere, politische Verbindung zwischen Galiläa und Judäa überhaupt stattgefunden, und diese allein, nicht eine Gemein- samkeit des religiösen Glaubens, fördert eine Verschmelzung der Völker. Auch zu Christi Zeiten war Galiläa von Judäa politisch gänzlich ge- trennt, so dass es zu diesem "im Verhältnis des Auslands" stand.2) Inzwischen war aber etwas geschehen, was den israelitischen Charakter dieses nördlichen Landstriches wohl auf alle Zeiten fast ganz vertilgt haben muss: 720 Jahre vor Christo (also etwa anderthalb Jahrhunderte vor der babylonischen Gefangenschaft der Juden) wurde das nördliche Reich Israel von den Assyriern verwüstet und seine Bevölkerung -- angeblich in ihrer Gesamtheit, jedenfalls zum grossen Teile -- deportiert, und zwar in verschiedene und entfernte Teile des Reiches, wo sie in kurzer Zeit mit den übrigen Einwohnern verschmolz und in Folge dessen gänzlich verschwand.3) Zugleich wurden aus entlegenen 1) Graetz: Volkstümliche Geschichte der Juden, I, 88. 2) Graetz: a. a. O., I, 567. Galiläa und Peräa hatten zusammen einen eigenen, selbständig regierenden Tetrarchen, während Judäa, Samaria und Idumäa einem römischen Prokurator unterstanden. Graetz fügt an dieser Stelle hinzu: "Durch die Feindseligkeit der Samaritaner, deren Land als Keil zwischen Judäa und Galiläa mitten um (sic) lag, war der Verkehr zwischen beiden losgetrennten Landes- teilen noch mehr gehemmt". -- Dass man ausserdem kein Recht hat, die echten "Israeliten" des Nordens mit den eigentlichen "Juden" des Südens zu identifizieren, habe ich der Einfachheit halber hier unerwähnt gelassen; vergl. jedoch Kap. 5. 3) So gänzlich verschwand, dass manche Theologen, die über Musse ver-
fügten, sich auch in unserem Jahrhundert den Kopf zerbrachen, was aus den Israeliten geworden sei, da sie nicht annehmen konnten, fünf Sechstel des Volkes, dem Jahve die ganze Erde versprochen hatte, sollten einfach verschwunden sein. Ein findiger Kopf brachte sogar heraus, die verloren geglaubten zehn Stämme seien die heutigen Engländer! Er war auch um die Moral dieser Entdeckung nicht verlegen: daher gehören den Briten von Rechts wegen fünf Sechstel der gesamten Erdoberfläche; das übrige Sechstel den Juden. Vergl. H. L.: Lost Israel, where are they to be found? (Edinburgh, 6. Aufl. 1877). In dieser Broschüre wird ein anderes Werk genannt, Wilson: Our Israelitish Origin. Es giebt sogar, nach diesen Autoritäten, brave Angelsachsen, die ihre Genealogie bis auf Moses zurück- geführt haben! Welchen Unsinn hätte unser liebes Neunzehnte nicht gezeitigt? (Wer es geschickt anfinge, könnte bei Späteren den Eindruck hervorbringen, das ganze Säculum sei fürs Tollhaus reif gewesen!) Das Erbe der alten Welt. Herzen. Der tyrische König Hiram muss es überhaupt wenig be-völkert gefunden haben, da er die Gelegenheit benutzte, um verschiedene fremde Völkerschaften in Galiläa anzusiedeln.1) Dann kam, wie Jeder weiss, die Scheidung in zwei Reiche, und seit jener Zeit, d. h. seit tausend Jahren vor Christus (!) hat nur vorübergehend, hin und wieder, eine innigere, politische Verbindung zwischen Galiläa und Judäa überhaupt stattgefunden, und diese allein, nicht eine Gemein- samkeit des religiösen Glaubens, fördert eine Verschmelzung der Völker. Auch zu Christi Zeiten war Galiläa von Judäa politisch gänzlich ge- trennt, so dass es zu diesem »im Verhältnis des Auslands« stand.2) Inzwischen war aber etwas geschehen, was den israelitischen Charakter dieses nördlichen Landstriches wohl auf alle Zeiten fast ganz vertilgt haben muss: 720 Jahre vor Christo (also etwa anderthalb Jahrhunderte vor der babylonischen Gefangenschaft der Juden) wurde das nördliche Reich Israel von den Assyriern verwüstet und seine Bevölkerung — angeblich in ihrer Gesamtheit, jedenfalls zum grossen Teile — deportiert, und zwar in verschiedene und entfernte Teile des Reiches, wo sie in kurzer Zeit mit den übrigen Einwohnern verschmolz und in Folge dessen gänzlich verschwand.3) Zugleich wurden aus entlegenen 1) Graetz: Volkstümliche Geschichte der Juden, I, 88. 2) Graetz: a. a. O., I, 567. Galiläa und Peräa hatten zusammen einen eigenen, selbständig regierenden Tetrarchen, während Judäa, Samaria und Idumäa einem römischen Prokurator unterstanden. Graetz fügt an dieser Stelle hinzu: »Durch die Feindseligkeit der Samaritaner, deren Land als Keil zwischen Judäa und Galiläa mitten um (sic) lag, war der Verkehr zwischen beiden losgetrennten Landes- teilen noch mehr gehemmt«. — Dass man ausserdem kein Recht hat, die echten »Israeliten« des Nordens mit den eigentlichen »Juden« des Südens zu identifizieren, habe ich der Einfachheit halber hier unerwähnt gelassen; vergl. jedoch Kap. 5. 3) So gänzlich verschwand, dass manche Theologen, die über Musse ver-
fügten, sich auch in unserem Jahrhundert den Kopf zerbrachen, was aus den Israeliten geworden sei, da sie nicht annehmen konnten, fünf Sechstel des Volkes, dem Jahve die ganze Erde versprochen hatte, sollten einfach verschwunden sein. Ein findiger Kopf brachte sogar heraus, die verloren geglaubten zehn Stämme seien die heutigen Engländer! Er war auch um die Moral dieser Entdeckung nicht verlegen: daher gehören den Briten von Rechts wegen fünf Sechstel der gesamten Erdoberfläche; das übrige Sechstel den Juden. Vergl. H. L.: Lost Israel, where are they to be found? (Edinburgh, 6. Aufl. 1877). In dieser Broschüre wird ein anderes Werk genannt, Wilson: Our Israelitish Origin. Es giebt sogar, nach diesen Autoritäten, brave Angelsachsen, die ihre Genealogie bis auf Moses zurück- geführt haben! Welchen Unsinn hätte unser liebes Neunzehnte nicht gezeitigt? (Wer es geschickt anfinge, könnte bei Späteren den Eindruck hervorbringen, das ganze Säculum sei fürs Tollhaus reif gewesen!) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0235" n="212"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/> Herzen. Der tyrische König Hiram muss es überhaupt wenig be-<lb/> völkert gefunden haben, da er die Gelegenheit benutzte, um verschiedene<lb/> fremde Völkerschaften in Galiläa anzusiedeln.<note place="foot" n="1)">Graetz: <hi rendition="#i">Volkstümliche Geschichte der Juden</hi>, I, 88.</note> Dann kam, wie Jeder<lb/> weiss, die Scheidung in zwei Reiche, und seit jener Zeit, d. h. seit<lb/><hi rendition="#g">tausend</hi> Jahren vor Christus (!) hat nur vorübergehend, hin und<lb/> wieder, eine innigere, politische Verbindung zwischen Galiläa und<lb/> Judäa überhaupt stattgefunden, und diese allein, nicht eine Gemein-<lb/> samkeit des religiösen Glaubens, fördert eine Verschmelzung der Völker.<lb/> Auch zu Christi Zeiten war Galiläa von Judäa politisch gänzlich ge-<lb/> trennt, so dass es zu diesem »im Verhältnis des Auslands« stand.<note place="foot" n="2)">Graetz: a. a. O., I, 567. Galiläa und Peräa hatten zusammen einen<lb/> eigenen, selbständig regierenden Tetrarchen, während Judäa, Samaria und Idumäa<lb/> einem römischen Prokurator unterstanden. Graetz fügt an dieser Stelle hinzu:<lb/> »Durch die Feindseligkeit der Samaritaner, deren Land als Keil zwischen Judäa und<lb/> Galiläa mitten um <hi rendition="#i">(sic)</hi> lag, war der Verkehr zwischen beiden losgetrennten Landes-<lb/> teilen noch mehr gehemmt«. — Dass man ausserdem kein Recht hat, die echten<lb/> »Israeliten« des Nordens mit den eigentlichen »Juden« des Südens zu identifizieren,<lb/> habe ich der Einfachheit halber hier unerwähnt gelassen; vergl. jedoch Kap. 5.</note><lb/> Inzwischen war aber etwas geschehen, was den israelitischen Charakter<lb/> dieses nördlichen Landstriches wohl auf alle Zeiten fast ganz vertilgt<lb/> haben muss: 720 Jahre vor Christo (also etwa anderthalb Jahrhunderte<lb/> vor der babylonischen Gefangenschaft der Juden) wurde das nördliche<lb/> Reich Israel von den Assyriern verwüstet und seine Bevölkerung —<lb/> angeblich in ihrer Gesamtheit, jedenfalls zum grossen Teile — deportiert,<lb/> und zwar in verschiedene und entfernte Teile des Reiches, wo sie in<lb/> kurzer Zeit mit den übrigen Einwohnern verschmolz und in Folge<lb/> dessen gänzlich verschwand.<note place="foot" n="3)">So gänzlich verschwand, dass manche Theologen, die über Musse ver-<lb/> fügten, sich auch in unserem Jahrhundert den Kopf zerbrachen, was aus den<lb/> Israeliten geworden sei, da sie nicht annehmen konnten, fünf Sechstel des Volkes,<lb/> dem Jahve die ganze Erde versprochen hatte, sollten einfach verschwunden sein.<lb/> Ein findiger Kopf brachte sogar heraus, die verloren geglaubten zehn Stämme<lb/> seien die heutigen Engländer! Er war auch um die Moral dieser Entdeckung nicht<lb/> verlegen: daher gehören den Briten von Rechts wegen fünf Sechstel der gesamten<lb/> Erdoberfläche; das übrige Sechstel den Juden. Vergl. H. L.: <hi rendition="#i">Lost Israel, where<lb/> are they to be found?</hi> (<hi rendition="#i">Edinburgh</hi>, 6. Aufl. 1877). In dieser Broschüre wird ein<lb/> anderes Werk genannt, Wilson: <hi rendition="#i">Our Israelitish Origin.</hi> Es giebt sogar, nach<lb/> diesen Autoritäten, brave Angelsachsen, die ihre Genealogie bis auf Moses zurück-<lb/> geführt haben! Welchen Unsinn hätte unser liebes Neunzehnte nicht gezeitigt?<lb/> (Wer es geschickt anfinge, könnte bei Späteren den Eindruck hervorbringen, das<lb/> ganze Säculum sei fürs Tollhaus reif gewesen!)</note> Zugleich wurden aus entlegenen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [212/0235]
Das Erbe der alten Welt.
Herzen. Der tyrische König Hiram muss es überhaupt wenig be-
völkert gefunden haben, da er die Gelegenheit benutzte, um verschiedene
fremde Völkerschaften in Galiläa anzusiedeln. 1) Dann kam, wie Jeder
weiss, die Scheidung in zwei Reiche, und seit jener Zeit, d. h. seit
tausend Jahren vor Christus (!) hat nur vorübergehend, hin und
wieder, eine innigere, politische Verbindung zwischen Galiläa und
Judäa überhaupt stattgefunden, und diese allein, nicht eine Gemein-
samkeit des religiösen Glaubens, fördert eine Verschmelzung der Völker.
Auch zu Christi Zeiten war Galiläa von Judäa politisch gänzlich ge-
trennt, so dass es zu diesem »im Verhältnis des Auslands« stand. 2)
Inzwischen war aber etwas geschehen, was den israelitischen Charakter
dieses nördlichen Landstriches wohl auf alle Zeiten fast ganz vertilgt
haben muss: 720 Jahre vor Christo (also etwa anderthalb Jahrhunderte
vor der babylonischen Gefangenschaft der Juden) wurde das nördliche
Reich Israel von den Assyriern verwüstet und seine Bevölkerung —
angeblich in ihrer Gesamtheit, jedenfalls zum grossen Teile — deportiert,
und zwar in verschiedene und entfernte Teile des Reiches, wo sie in
kurzer Zeit mit den übrigen Einwohnern verschmolz und in Folge
dessen gänzlich verschwand. 3) Zugleich wurden aus entlegenen
1) Graetz: Volkstümliche Geschichte der Juden, I, 88.
2) Graetz: a. a. O., I, 567. Galiläa und Peräa hatten zusammen einen
eigenen, selbständig regierenden Tetrarchen, während Judäa, Samaria und Idumäa
einem römischen Prokurator unterstanden. Graetz fügt an dieser Stelle hinzu:
»Durch die Feindseligkeit der Samaritaner, deren Land als Keil zwischen Judäa und
Galiläa mitten um (sic) lag, war der Verkehr zwischen beiden losgetrennten Landes-
teilen noch mehr gehemmt«. — Dass man ausserdem kein Recht hat, die echten
»Israeliten« des Nordens mit den eigentlichen »Juden« des Südens zu identifizieren,
habe ich der Einfachheit halber hier unerwähnt gelassen; vergl. jedoch Kap. 5.
3) So gänzlich verschwand, dass manche Theologen, die über Musse ver-
fügten, sich auch in unserem Jahrhundert den Kopf zerbrachen, was aus den
Israeliten geworden sei, da sie nicht annehmen konnten, fünf Sechstel des Volkes,
dem Jahve die ganze Erde versprochen hatte, sollten einfach verschwunden sein.
Ein findiger Kopf brachte sogar heraus, die verloren geglaubten zehn Stämme
seien die heutigen Engländer! Er war auch um die Moral dieser Entdeckung nicht
verlegen: daher gehören den Briten von Rechts wegen fünf Sechstel der gesamten
Erdoberfläche; das übrige Sechstel den Juden. Vergl. H. L.: Lost Israel, where
are they to be found? (Edinburgh, 6. Aufl. 1877). In dieser Broschüre wird ein
anderes Werk genannt, Wilson: Our Israelitish Origin. Es giebt sogar, nach
diesen Autoritäten, brave Angelsachsen, die ihre Genealogie bis auf Moses zurück-
geführt haben! Welchen Unsinn hätte unser liebes Neunzehnte nicht gezeitigt?
(Wer es geschickt anfinge, könnte bei Späteren den Eindruck hervorbringen, das
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