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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
Schlüssel nichts weiter war, als eine neue, nebelhafte Umschreibung
des ungelöst bleibenden Problems, und dass nicht ein "Begriff", sondern
einzig ein thatsächlich gelebtes Leben, einzig der mit nichts zu ver-
gleichende Eindruck einer Persönlichkeit, wie sie die Welt noch
niemals erlebt hatte, den "Schlüssel" giebt zur Entstehung des Christen-
tums. Je mehr Ballast aufgedeckt wurde, einerseits in Gestalt pseudo-
mythischer (richtiger gesprochen pseudo-historischer) Legendenbildung,
andererseits in der Form philosophisch-dogmatischer Spekulation, um-
somehr Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit musste dem ursprüng-
lichen, treibenden und gestaltenden Moment zuerkannt werden. Die
allerneueste, streng-philologische Kritik hat das ungeahnt hohe Alter
der Evangelien und die weitreichende Authenticität der uns vorliegenden
Handschriften nachgewiesen; es ist nunmehr gelungen, gerade die
allerfrüheste Geschichte des Christentums1) streng historisch, fast Schritt
für Schritt zu verfolgen; doch ist das Alles vom allgemein mensch-
lichen Standpunkt aus betrachtet weit weniger belangreich als die eine
Thatsache, dass in Folge dieser Ergebnisse die Erscheinung des einen
göttlichen Mannes in den Vordergrund gerückt worden ist, so dass
Ungläubige sowohl wie Gläubige nicht mehr umhin können, sie als
Mittelpunkt und Quelle alles Christentums (dies Wort in dem denkbar
umfassendsten Sinne genommen) anzuerkennen.

Buddha und Christus wurden von mir vorhin zusammengestellt.Buddha
und Christus.

Der Kern religiöser Vorstellungen bei allen begabteren Menschenrassen
(mit einziger Ausnahme der kleinen Familie der Juden auf der einen
Seite und ihrer Antipoden, der Brahmanischen Inder auf der andern)
beruht seit den letzten Jahrtausenden nicht auf dem Bedürfnis einer
Welterklärung, auch nicht auf mythologischer Natursymbolik, noch auf
grübelndem Transcendentismus, sondern auf der Erfahrung grosser
Charaktere. Wohl spukt noch unter uns das Wahngebilde einer

Untersuchungen auf der einen Seite, auf der anderen die zunehmende Neigung,
das Augenmerk nicht auf das Theologische und Nebensächliche, sondern auf das
Lebendige und Bestimmende zu richten, lässt heute den Strauss'schen mythologischen
Standpunkt als einen so totgeborenen empfinden, dass man in den Schriften dieses
ehrlichen Mannes nicht blättern kann, ohne laut zu gähnen. Und doch muss man
zugeben, dass solche Männer, wie er und wie Renan (zwei Hohlspiegel, der eine
alle Linien in die Länge, der andere in die Fläche verzerrend) ein wichtiges Werk
vollbracht haben, indem sie die Aufmerksamkeit von Tausenden auf das grosse
Wunder der Erscheinung Christi richteten und somit für gründlichere Denker und
einsichtsvollere Männer eine Zuhörerschaft bereiteten.
1) Später tritt eine noch unaufgeklärte dunkle Periode ein.
13*

Die Erscheinung Christi.
Schlüssel nichts weiter war, als eine neue, nebelhafte Umschreibung
des ungelöst bleibenden Problems, und dass nicht ein »Begriff«, sondern
einzig ein thatsächlich gelebtes Leben, einzig der mit nichts zu ver-
gleichende Eindruck einer Persönlichkeit, wie sie die Welt noch
niemals erlebt hatte, den »Schlüssel« giebt zur Entstehung des Christen-
tums. Je mehr Ballast aufgedeckt wurde, einerseits in Gestalt pseudo-
mythischer (richtiger gesprochen pseudo-historischer) Legendenbildung,
andererseits in der Form philosophisch-dogmatischer Spekulation, um-
somehr Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit musste dem ursprüng-
lichen, treibenden und gestaltenden Moment zuerkannt werden. Die
allerneueste, streng-philologische Kritik hat das ungeahnt hohe Alter
der Evangelien und die weitreichende Authenticität der uns vorliegenden
Handschriften nachgewiesen; es ist nunmehr gelungen, gerade die
allerfrüheste Geschichte des Christentums1) streng historisch, fast Schritt
für Schritt zu verfolgen; doch ist das Alles vom allgemein mensch-
lichen Standpunkt aus betrachtet weit weniger belangreich als die eine
Thatsache, dass in Folge dieser Ergebnisse die Erscheinung des einen
göttlichen Mannes in den Vordergrund gerückt worden ist, so dass
Ungläubige sowohl wie Gläubige nicht mehr umhin können, sie als
Mittelpunkt und Quelle alles Christentums (dies Wort in dem denkbar
umfassendsten Sinne genommen) anzuerkennen.

Buddha und Christus wurden von mir vorhin zusammengestellt.Buddha
und Christus.

Der Kern religiöser Vorstellungen bei allen begabteren Menschenrassen
(mit einziger Ausnahme der kleinen Familie der Juden auf der einen
Seite und ihrer Antipoden, der Brahmanischen Inder auf der andern)
beruht seit den letzten Jahrtausenden nicht auf dem Bedürfnis einer
Welterklärung, auch nicht auf mythologischer Natursymbolik, noch auf
grübelndem Transcendentismus, sondern auf der Erfahrung grosser
Charaktere. Wohl spukt noch unter uns das Wahngebilde einer

Untersuchungen auf der einen Seite, auf der anderen die zunehmende Neigung,
das Augenmerk nicht auf das Theologische und Nebensächliche, sondern auf das
Lebendige und Bestimmende zu richten, lässt heute den Strauss’schen mythologischen
Standpunkt als einen so totgeborenen empfinden, dass man in den Schriften dieses
ehrlichen Mannes nicht blättern kann, ohne laut zu gähnen. Und doch muss man
zugeben, dass solche Männer, wie er und wie Renan (zwei Hohlspiegel, der eine
alle Linien in die Länge, der andere in die Fläche verzerrend) ein wichtiges Werk
vollbracht haben, indem sie die Aufmerksamkeit von Tausenden auf das grosse
Wunder der Erscheinung Christi richteten und somit für gründlichere Denker und
einsichtsvollere Männer eine Zuhörerschaft bereiteten.
1) Später tritt eine noch unaufgeklärte dunkle Periode ein.
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[195/0218] Die Erscheinung Christi. Schlüssel nichts weiter war, als eine neue, nebelhafte Umschreibung des ungelöst bleibenden Problems, und dass nicht ein »Begriff«, sondern einzig ein thatsächlich gelebtes Leben, einzig der mit nichts zu ver- gleichende Eindruck einer Persönlichkeit, wie sie die Welt noch niemals erlebt hatte, den »Schlüssel« giebt zur Entstehung des Christen- tums. Je mehr Ballast aufgedeckt wurde, einerseits in Gestalt pseudo- mythischer (richtiger gesprochen pseudo-historischer) Legendenbildung, andererseits in der Form philosophisch-dogmatischer Spekulation, um- somehr Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit musste dem ursprüng- lichen, treibenden und gestaltenden Moment zuerkannt werden. Die allerneueste, streng-philologische Kritik hat das ungeahnt hohe Alter der Evangelien und die weitreichende Authenticität der uns vorliegenden Handschriften nachgewiesen; es ist nunmehr gelungen, gerade die allerfrüheste Geschichte des Christentums 1) streng historisch, fast Schritt für Schritt zu verfolgen; doch ist das Alles vom allgemein mensch- lichen Standpunkt aus betrachtet weit weniger belangreich als die eine Thatsache, dass in Folge dieser Ergebnisse die Erscheinung des einen göttlichen Mannes in den Vordergrund gerückt worden ist, so dass Ungläubige sowohl wie Gläubige nicht mehr umhin können, sie als Mittelpunkt und Quelle alles Christentums (dies Wort in dem denkbar umfassendsten Sinne genommen) anzuerkennen. Buddha und Christus wurden von mir vorhin zusammengestellt. Der Kern religiöser Vorstellungen bei allen begabteren Menschenrassen (mit einziger Ausnahme der kleinen Familie der Juden auf der einen Seite und ihrer Antipoden, der Brahmanischen Inder auf der andern) beruht seit den letzten Jahrtausenden nicht auf dem Bedürfnis einer Welterklärung, auch nicht auf mythologischer Natursymbolik, noch auf grübelndem Transcendentismus, sondern auf der Erfahrung grosser Charaktere. Wohl spukt noch unter uns das Wahngebilde einer 1) Buddha und Christus. 1) Später tritt eine noch unaufgeklärte dunkle Periode ein. 1) Untersuchungen auf der einen Seite, auf der anderen die zunehmende Neigung, das Augenmerk nicht auf das Theologische und Nebensächliche, sondern auf das Lebendige und Bestimmende zu richten, lässt heute den Strauss’schen mythologischen Standpunkt als einen so totgeborenen empfinden, dass man in den Schriften dieses ehrlichen Mannes nicht blättern kann, ohne laut zu gähnen. Und doch muss man zugeben, dass solche Männer, wie er und wie Renan (zwei Hohlspiegel, der eine alle Linien in die Länge, der andere in die Fläche verzerrend) ein wichtiges Werk vollbracht haben, indem sie die Aufmerksamkeit von Tausenden auf das grosse Wunder der Erscheinung Christi richteten und somit für gründlichere Denker und einsichtsvollere Männer eine Zuhörerschaft bereiteten. 13*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/218>, abgerufen am 23.11.2024.