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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Beginnen; jede Gestalt -- auch die eines Käfers -- ist für den
Menschenverstand ein "Wunder", die menschliche Persönlichkeit aber
ist das mysterium magnum des Daseins, und je mehr die Kritik eine
grosse Persönlichkeit von den Zuthaten der Legendenbildung reinigt,
je mehr es ihr gelingt, fast einen jeden ihrer Schritte als ein Be-
dingtes, als ein gewissermassen durch die Natur der Dinge Gebotenes
hinzustellen, umso unbegreiflicher wird das Wunder. Das ist auch
das Endresultat der Kritik, welche in unserem Jahrhundert am Leben
Jesu geübt wurde. Man nennt unser Jahrhundert ein unreligiöses;
noch niemals jedoch (seit den ersten christlichen Jahrhunderten) hat
sich das Interesse der Menschen in so leidenschaftlicher Weise auf die
Person Jesu Christi konzentriert, wie in den letzten 70 Jahren; die
Werke Darwin's, wie weit verbreitet sie auch waren, wurden nicht
ein Zehntel soviel gekauft, wie die von Strauss und Renan. Und das
Endergebnis ist, dass das thatsächliche Erdenleben Jesu Christi eine
immer konkretere Gestalt gewonnen und man immer deutlicher hat
einsehen müssen, die Entstehung der christlichen Religion sei im letzten
Grund auf den schier beispiellosen Eindruck zurückzuführen, den diese
eine Persönlichkeit auf ihre Umgebung gemacht und hinterlassen hatte.
Bestimmter als je, und darum auch unergründlicher als je steht heute
diese Erscheinung vor unseren Augen.

Das musste zunächst festgestellt werden. Die ganze Richtung
unserer Zeit bringt es mit sich, dass wir uns nur für das Konkrete,
Lebendige erwärmen können. Am Beginn des Jahrhunderts war es
anders; die Romantik warf ihre Schatten nach allen Seiten, und so
war es auch Mode geworden, Alles und Jedes "mythisch" zu erklären.
Im Jahre 1835 folgte David Strauss dem ihm von allen Seiten ge-
gebenen Beispiel und bot als "Schlüssel" (!) der Evangelien "den Be-
griff des Mythus"!1) Heute sieht ein Jeder ein, dass dieser angebliche

1) Siehe erste Ausg. I, 72 fg. und Volksausgabe, 9. Aufl., S. 191 fg. --
Dass Strauss niemals geahnt hat, was ein Mythus ist, was Mythologie bedeutet,
wie aus seinem Durcheinanderwerfen von Volksmythen, von Dichtungen und von
Legenden hervorgeht, das ist wieder eine Sache für sich. Eine spätere Zeit wird
überhaupt den Erfolg solcher öden, zwar gelehrten, doch jeder tieferen Einsichts-
kraft, jedes schöpferischen Hauches baren Produkte wie Straussens nicht begreifen
können. Es scheint als ob, ähnlich wie die Bienen und Ameisen ganzer Kohorten
geschlechtsloser Arbeiter in ihren Staaten bedürfen, auch wir Menschen ohne den
Fleiss und die auf kurze Zeit weit hinreichende Wirkung solcher mit dem Stempel
der Sterilität gezeichneten Geister (wie sie um die Mitte unseres Jahrhunderts so
üppig blühten) nicht auskommen könnten. Der Fortgang der historisch-kritischen

Das Erbe der alten Welt.
Beginnen; jede Gestalt — auch die eines Käfers — ist für den
Menschenverstand ein »Wunder«, die menschliche Persönlichkeit aber
ist das mysterium magnum des Daseins, und je mehr die Kritik eine
grosse Persönlichkeit von den Zuthaten der Legendenbildung reinigt,
je mehr es ihr gelingt, fast einen jeden ihrer Schritte als ein Be-
dingtes, als ein gewissermassen durch die Natur der Dinge Gebotenes
hinzustellen, umso unbegreiflicher wird das Wunder. Das ist auch
das Endresultat der Kritik, welche in unserem Jahrhundert am Leben
Jesu geübt wurde. Man nennt unser Jahrhundert ein unreligiöses;
noch niemals jedoch (seit den ersten christlichen Jahrhunderten) hat
sich das Interesse der Menschen in so leidenschaftlicher Weise auf die
Person Jesu Christi konzentriert, wie in den letzten 70 Jahren; die
Werke Darwin’s, wie weit verbreitet sie auch waren, wurden nicht
ein Zehntel soviel gekauft, wie die von Strauss und Renan. Und das
Endergebnis ist, dass das thatsächliche Erdenleben Jesu Christi eine
immer konkretere Gestalt gewonnen und man immer deutlicher hat
einsehen müssen, die Entstehung der christlichen Religion sei im letzten
Grund auf den schier beispiellosen Eindruck zurückzuführen, den diese
eine Persönlichkeit auf ihre Umgebung gemacht und hinterlassen hatte.
Bestimmter als je, und darum auch unergründlicher als je steht heute
diese Erscheinung vor unseren Augen.

Das musste zunächst festgestellt werden. Die ganze Richtung
unserer Zeit bringt es mit sich, dass wir uns nur für das Konkrete,
Lebendige erwärmen können. Am Beginn des Jahrhunderts war es
anders; die Romantik warf ihre Schatten nach allen Seiten, und so
war es auch Mode geworden, Alles und Jedes »mythisch« zu erklären.
Im Jahre 1835 folgte David Strauss dem ihm von allen Seiten ge-
gebenen Beispiel und bot als »Schlüssel« (!) der Evangelien »den Be-
griff des Mythus«!1) Heute sieht ein Jeder ein, dass dieser angebliche

1) Siehe erste Ausg. I, 72 fg. und Volksausgabe, 9. Aufl., S. 191 fg. —
Dass Strauss niemals geahnt hat, was ein Mythus ist, was Mythologie bedeutet,
wie aus seinem Durcheinanderwerfen von Volksmythen, von Dichtungen und von
Legenden hervorgeht, das ist wieder eine Sache für sich. Eine spätere Zeit wird
überhaupt den Erfolg solcher öden, zwar gelehrten, doch jeder tieferen Einsichts-
kraft, jedes schöpferischen Hauches baren Produkte wie Straussens nicht begreifen
können. Es scheint als ob, ähnlich wie die Bienen und Ameisen ganzer Kohorten
geschlechtsloser Arbeiter in ihren Staaten bedürfen, auch wir Menschen ohne den
Fleiss und die auf kurze Zeit weit hinreichende Wirkung solcher mit dem Stempel
der Sterilität gezeichneten Geister (wie sie um die Mitte unseres Jahrhunderts so
üppig blühten) nicht auskommen könnten. Der Fortgang der historisch-kritischen
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[194/0217] Das Erbe der alten Welt. Beginnen; jede Gestalt — auch die eines Käfers — ist für den Menschenverstand ein »Wunder«, die menschliche Persönlichkeit aber ist das mysterium magnum des Daseins, und je mehr die Kritik eine grosse Persönlichkeit von den Zuthaten der Legendenbildung reinigt, je mehr es ihr gelingt, fast einen jeden ihrer Schritte als ein Be- dingtes, als ein gewissermassen durch die Natur der Dinge Gebotenes hinzustellen, umso unbegreiflicher wird das Wunder. Das ist auch das Endresultat der Kritik, welche in unserem Jahrhundert am Leben Jesu geübt wurde. Man nennt unser Jahrhundert ein unreligiöses; noch niemals jedoch (seit den ersten christlichen Jahrhunderten) hat sich das Interesse der Menschen in so leidenschaftlicher Weise auf die Person Jesu Christi konzentriert, wie in den letzten 70 Jahren; die Werke Darwin’s, wie weit verbreitet sie auch waren, wurden nicht ein Zehntel soviel gekauft, wie die von Strauss und Renan. Und das Endergebnis ist, dass das thatsächliche Erdenleben Jesu Christi eine immer konkretere Gestalt gewonnen und man immer deutlicher hat einsehen müssen, die Entstehung der christlichen Religion sei im letzten Grund auf den schier beispiellosen Eindruck zurückzuführen, den diese eine Persönlichkeit auf ihre Umgebung gemacht und hinterlassen hatte. Bestimmter als je, und darum auch unergründlicher als je steht heute diese Erscheinung vor unseren Augen. Das musste zunächst festgestellt werden. Die ganze Richtung unserer Zeit bringt es mit sich, dass wir uns nur für das Konkrete, Lebendige erwärmen können. Am Beginn des Jahrhunderts war es anders; die Romantik warf ihre Schatten nach allen Seiten, und so war es auch Mode geworden, Alles und Jedes »mythisch« zu erklären. Im Jahre 1835 folgte David Strauss dem ihm von allen Seiten ge- gebenen Beispiel und bot als »Schlüssel« (!) der Evangelien »den Be- griff des Mythus«! 1) Heute sieht ein Jeder ein, dass dieser angebliche 1) Siehe erste Ausg. I, 72 fg. und Volksausgabe, 9. Aufl., S. 191 fg. — Dass Strauss niemals geahnt hat, was ein Mythus ist, was Mythologie bedeutet, wie aus seinem Durcheinanderwerfen von Volksmythen, von Dichtungen und von Legenden hervorgeht, das ist wieder eine Sache für sich. Eine spätere Zeit wird überhaupt den Erfolg solcher öden, zwar gelehrten, doch jeder tieferen Einsichts- kraft, jedes schöpferischen Hauches baren Produkte wie Straussens nicht begreifen können. Es scheint als ob, ähnlich wie die Bienen und Ameisen ganzer Kohorten geschlechtsloser Arbeiter in ihren Staaten bedürfen, auch wir Menschen ohne den Fleiss und die auf kurze Zeit weit hinreichende Wirkung solcher mit dem Stempel der Sterilität gezeichneten Geister (wie sie um die Mitte unseres Jahrhunderts so üppig blühten) nicht auskommen könnten. Der Fortgang der historisch-kritischen

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/217>, abgerufen am 23.11.2024.