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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
daran hatten freilich die Römer nie gedacht.1) Ich frage mich aber,
ob wir ohne den Scharfblick und den Gerechtigkeitssinn, vor allem
ohne den unvergleichlichen staatenbildenden Instinkt der Römer jemals
dahin gelangt wären, das Weib als vollgültige Genossin unseres
Lebens, als Eckstein der Familie in unser politisches System auf-
zunehmen? Ich glaube es bestimmt verneinen zu dürfen. Das
Christentum bedeutet durchaus keine Stärkung der Idee der Familie.
Im Gegenteil, sein eigentliches Wesen ist, dass es alle politischen
und rechtlichen Bande zerreisst und jedes einzelne Individuum auf
sich selbst stellt. Den Gnadenstoss erhielt auch die römische Familie
von dem christlichen Kaiser Constantin, der die Souveränität des
paterfamilias aufhob. Als Ausfluss des Judentums ist ausserdem
das Christentum von Hause aus eine anarchische Macht, eine anti-
politische. Dass die katholische Kirche ganz andere Wege ging und
eine politische Macht erster Grösse wurde, ist einfach dem Umstand
zuzuschreiben, dass sie die klare Lehre Christi verleugnete, und dafür
die römische Staatsidee wieder aufgriff -- wenn auch nur die Idee
des verkommenen römischen Staates. Für die Erhaltung des römischen
Rechtes that die Kirche mehr als irgend Jemand;2) Papst Gregor IX..
zum Beispiel geizte einzig nach dem Titel eines "Justinian der Kirche",
mehr als Seligsprechung lag diese Anerkennung seiner juristischen
Verdienste ihm am Herzen.3) Waren nun auch die Gründe, welche
die Kirche und die Könige trieb, das römische Recht in seiner
byzantinischen Aftergestalt zu erhalten und zwangsweise einzuführen,
durchaus nicht immer besonders edle, das konnte doch nicht ver-
hindern, dass manches Edelste an römischen Gedanken zugleich mit
gerettet wurde. Und ebenso wie die Tradition des römischen Rechtes
niemals aufhörte, schwand auch die römische Auffassung der Würde
des Weibes und der politischen Bedeutung der Familie nie wieder
ganz aus dem Bewusstsein der Menschen. Seit etlichen Jahrhunderten
(hier wie an so manchen Orten bildet das 13. Jahrhundert mit
Petrus Lombardus die fast mathematische Scheidelinie) sind wir
der altrömischen Auffassung immer näher gekommen, namentlich

1) Ich rede von dem treuen, keuschen Weibe; denn die Ehebrecherin und
die Hetäre wurden von den namhaftesten Dichtern des verfallenden Roms, allen
voran Catull und Virgil, hoch gefeiert.
2) Siehe namentlich Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter,
Kap. 3, 15, 22 u. s. w.
3) Bryce: Das heilige römische Reich, franz. Ausg., S. 131.

Das Erbe der alten Welt.
daran hatten freilich die Römer nie gedacht.1) Ich frage mich aber,
ob wir ohne den Scharfblick und den Gerechtigkeitssinn, vor allem
ohne den unvergleichlichen staatenbildenden Instinkt der Römer jemals
dahin gelangt wären, das Weib als vollgültige Genossin unseres
Lebens, als Eckstein der Familie in unser politisches System auf-
zunehmen? Ich glaube es bestimmt verneinen zu dürfen. Das
Christentum bedeutet durchaus keine Stärkung der Idee der Familie.
Im Gegenteil, sein eigentliches Wesen ist, dass es alle politischen
und rechtlichen Bande zerreisst und jedes einzelne Individuum auf
sich selbst stellt. Den Gnadenstoss erhielt auch die römische Familie
von dem christlichen Kaiser Constantin, der die Souveränität des
paterfamilias aufhob. Als Ausfluss des Judentums ist ausserdem
das Christentum von Hause aus eine anarchische Macht, eine anti-
politische. Dass die katholische Kirche ganz andere Wege ging und
eine politische Macht erster Grösse wurde, ist einfach dem Umstand
zuzuschreiben, dass sie die klare Lehre Christi verleugnete, und dafür
die römische Staatsidee wieder aufgriff — wenn auch nur die Idee
des verkommenen römischen Staates. Für die Erhaltung des römischen
Rechtes that die Kirche mehr als irgend Jemand;2) Papst Gregor IX..
zum Beispiel geizte einzig nach dem Titel eines »Justinian der Kirche«,
mehr als Seligsprechung lag diese Anerkennung seiner juristischen
Verdienste ihm am Herzen.3) Waren nun auch die Gründe, welche
die Kirche und die Könige trieb, das römische Recht in seiner
byzantinischen Aftergestalt zu erhalten und zwangsweise einzuführen,
durchaus nicht immer besonders edle, das konnte doch nicht ver-
hindern, dass manches Edelste an römischen Gedanken zugleich mit
gerettet wurde. Und ebenso wie die Tradition des römischen Rechtes
niemals aufhörte, schwand auch die römische Auffassung der Würde
des Weibes und der politischen Bedeutung der Familie nie wieder
ganz aus dem Bewusstsein der Menschen. Seit etlichen Jahrhunderten
(hier wie an so manchen Orten bildet das 13. Jahrhundert mit
Petrus Lombardus die fast mathematische Scheidelinie) sind wir
der altrömischen Auffassung immer näher gekommen, namentlich

1) Ich rede von dem treuen, keuschen Weibe; denn die Ehebrecherin und
die Hetäre wurden von den namhaftesten Dichtern des verfallenden Roms, allen
voran Catull und Virgil, hoch gefeiert.
2) Siehe namentlich Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter,
Kap. 3, 15, 22 u. s. w.
3) Bryce: Das heilige römische Reich, franz. Ausg., S. 131.
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[180/0203] Das Erbe der alten Welt. daran hatten freilich die Römer nie gedacht. 1) Ich frage mich aber, ob wir ohne den Scharfblick und den Gerechtigkeitssinn, vor allem ohne den unvergleichlichen staatenbildenden Instinkt der Römer jemals dahin gelangt wären, das Weib als vollgültige Genossin unseres Lebens, als Eckstein der Familie in unser politisches System auf- zunehmen? Ich glaube es bestimmt verneinen zu dürfen. Das Christentum bedeutet durchaus keine Stärkung der Idee der Familie. Im Gegenteil, sein eigentliches Wesen ist, dass es alle politischen und rechtlichen Bande zerreisst und jedes einzelne Individuum auf sich selbst stellt. Den Gnadenstoss erhielt auch die römische Familie von dem christlichen Kaiser Constantin, der die Souveränität des paterfamilias aufhob. Als Ausfluss des Judentums ist ausserdem das Christentum von Hause aus eine anarchische Macht, eine anti- politische. Dass die katholische Kirche ganz andere Wege ging und eine politische Macht erster Grösse wurde, ist einfach dem Umstand zuzuschreiben, dass sie die klare Lehre Christi verleugnete, und dafür die römische Staatsidee wieder aufgriff — wenn auch nur die Idee des verkommenen römischen Staates. Für die Erhaltung des römischen Rechtes that die Kirche mehr als irgend Jemand; 2) Papst Gregor IX.. zum Beispiel geizte einzig nach dem Titel eines »Justinian der Kirche«, mehr als Seligsprechung lag diese Anerkennung seiner juristischen Verdienste ihm am Herzen. 3) Waren nun auch die Gründe, welche die Kirche und die Könige trieb, das römische Recht in seiner byzantinischen Aftergestalt zu erhalten und zwangsweise einzuführen, durchaus nicht immer besonders edle, das konnte doch nicht ver- hindern, dass manches Edelste an römischen Gedanken zugleich mit gerettet wurde. Und ebenso wie die Tradition des römischen Rechtes niemals aufhörte, schwand auch die römische Auffassung der Würde des Weibes und der politischen Bedeutung der Familie nie wieder ganz aus dem Bewusstsein der Menschen. Seit etlichen Jahrhunderten (hier wie an so manchen Orten bildet das 13. Jahrhundert mit Petrus Lombardus die fast mathematische Scheidelinie) sind wir der altrömischen Auffassung immer näher gekommen, namentlich 1) Ich rede von dem treuen, keuschen Weibe; denn die Ehebrecherin und die Hetäre wurden von den namhaftesten Dichtern des verfallenden Roms, allen voran Catull und Virgil, hoch gefeiert. 2) Siehe namentlich Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Kap. 3, 15, 22 u. s. w. 3) Bryce: Das heilige römische Reich, franz. Ausg., S. 131.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/203>, abgerufen am 28.11.2024.