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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
in seinem Hause, so verwehrte ihm das göttliche Gebot, dieses Recht
zu missbrauchen.1) Das Familienhaus war ja ein Heiligtum, sein
Herd einem Altar gleichwertig; und wenn es auch für unser heutiges
Gefühl etwas Grauenhaftes hat, davon zu hören, dass bei sehr grosser
Armut Eltern bisweilen ihre Kinder in die Sklaverei verkauften, so
wird man doch aus allen Rechtsgeschichten die Überzeugung ge-
winnen, dass irgend eine Grausamkeit (nach damaligen Begriffen) gegen
Frau oder Kinder fast oder ganz unbekannt war. Zwar ist die Gattin
ihrem Manne gegenüber juristisch filiae loco (einer Tochter gleich),
ihren eigenen Kindern gegenüber sororis loco (einer Schwester gleich):
das geschieht aber im Interesse der Einheit der Familie und damit,
sowohl in staatsrechtlicher wie in privatrechtlicher Beziehung, die
Familie als scharf abgegrenztes, von einer einzigen Person juristisch
vertretenes, autonomes, organisches Gebilde auftrete, nicht als ein
mehr oder minder festes Konglomerat von lauter einzelnen Frag-
menten. Schon im politischen Teile dieses Abschnittes sahen wir,
dass der Römer es liebte, die Gewalt einzelnen Männern zu übergeben,
vertrauend, dass aus Freiheit gepaart mit Verantwortlichkeit, beides
im Brennpunkt einer ihrer Individualität bewussten Persönlichkeit
vereint, massvolle und zugleich energische, weise Handlung hervor-
gehen würde. So auch hier. Später entartete dieses Familienleben;
es wurden schlaue Mittel ersonnen, um Surrogate für die wahre Ehe
aufzubringen, damit die Frau nicht mehr in die juristische Gewalt
des Mannes käme; "die Ehe wurde zu einem Geldgeschäft wie jedes
andere; nicht um Familien zu gründen, sondern um die zerrütteten
Vermögensverhältnisse durch Heiratsgüter aufzubessern, wurden Ehen
geschlossen, und geschlossene getrennt, um neue zu schliessen";2)
aber trotzdem konnte noch zu Caesar's Zeiten Publius Syrus als
römische Auffassung der Ehe die Zeile schreiben:

Perenne animus conjugium, non corpus facit.

Die Seele, nicht der Körper, macht die Ehe zu einer immerwährenden.

Das Weib.

Das ist der Mittelpunkt des römischen Rechtes; der Kontrast
mit Griechenland (und mit Deutschland) lässt die Bedeutung eines
solchen organischen Mittelpunktes ahnen. Auch hier wieder bewährt
sich der Römer, wenn auch als durchaus unsentimentaler, fast peinlich

1) Ausserdem unterlag er der "censorischen Rüge", sowohl für zu grosse
Strenge in der Ausübung seiner väterlichen Rechte wie auch für Nachlässigkeit;
siehe Jhering: Geist des römischen Rechtes, § 32.
2) Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 317.

Das Erbe der alten Welt.
in seinem Hause, so verwehrte ihm das göttliche Gebot, dieses Recht
zu missbrauchen.1) Das Familienhaus war ja ein Heiligtum, sein
Herd einem Altar gleichwertig; und wenn es auch für unser heutiges
Gefühl etwas Grauenhaftes hat, davon zu hören, dass bei sehr grosser
Armut Eltern bisweilen ihre Kinder in die Sklaverei verkauften, so
wird man doch aus allen Rechtsgeschichten die Überzeugung ge-
winnen, dass irgend eine Grausamkeit (nach damaligen Begriffen) gegen
Frau oder Kinder fast oder ganz unbekannt war. Zwar ist die Gattin
ihrem Manne gegenüber juristisch filiae loco (einer Tochter gleich),
ihren eigenen Kindern gegenüber sororis loco (einer Schwester gleich):
das geschieht aber im Interesse der Einheit der Familie und damit,
sowohl in staatsrechtlicher wie in privatrechtlicher Beziehung, die
Familie als scharf abgegrenztes, von einer einzigen Person juristisch
vertretenes, autonomes, organisches Gebilde auftrete, nicht als ein
mehr oder minder festes Konglomerat von lauter einzelnen Frag-
menten. Schon im politischen Teile dieses Abschnittes sahen wir,
dass der Römer es liebte, die Gewalt einzelnen Männern zu übergeben,
vertrauend, dass aus Freiheit gepaart mit Verantwortlichkeit, beides
im Brennpunkt einer ihrer Individualität bewussten Persönlichkeit
vereint, massvolle und zugleich energische, weise Handlung hervor-
gehen würde. So auch hier. Später entartete dieses Familienleben;
es wurden schlaue Mittel ersonnen, um Surrogate für die wahre Ehe
aufzubringen, damit die Frau nicht mehr in die juristische Gewalt
des Mannes käme; »die Ehe wurde zu einem Geldgeschäft wie jedes
andere; nicht um Familien zu gründen, sondern um die zerrütteten
Vermögensverhältnisse durch Heiratsgüter aufzubessern, wurden Ehen
geschlossen, und geschlossene getrennt, um neue zu schliessen«;2)
aber trotzdem konnte noch zu Caesar’s Zeiten Publius Syrus als
römische Auffassung der Ehe die Zeile schreiben:

Perenne animus conjugium, non corpus facit.

Die Seele, nicht der Körper, macht die Ehe zu einer immerwährenden.

Das Weib.

Das ist der Mittelpunkt des römischen Rechtes; der Kontrast
mit Griechenland (und mit Deutschland) lässt die Bedeutung eines
solchen organischen Mittelpunktes ahnen. Auch hier wieder bewährt
sich der Römer, wenn auch als durchaus unsentimentaler, fast peinlich

1) Ausserdem unterlag er der »censorischen Rüge«, sowohl für zu grosse
Strenge in der Ausübung seiner väterlichen Rechte wie auch für Nachlässigkeit;
siehe Jhering: Geist des römischen Rechtes, § 32.
2) Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 317.
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[178/0201] Das Erbe der alten Welt. in seinem Hause, so verwehrte ihm das göttliche Gebot, dieses Recht zu missbrauchen. 1) Das Familienhaus war ja ein Heiligtum, sein Herd einem Altar gleichwertig; und wenn es auch für unser heutiges Gefühl etwas Grauenhaftes hat, davon zu hören, dass bei sehr grosser Armut Eltern bisweilen ihre Kinder in die Sklaverei verkauften, so wird man doch aus allen Rechtsgeschichten die Überzeugung ge- winnen, dass irgend eine Grausamkeit (nach damaligen Begriffen) gegen Frau oder Kinder fast oder ganz unbekannt war. Zwar ist die Gattin ihrem Manne gegenüber juristisch filiae loco (einer Tochter gleich), ihren eigenen Kindern gegenüber sororis loco (einer Schwester gleich): das geschieht aber im Interesse der Einheit der Familie und damit, sowohl in staatsrechtlicher wie in privatrechtlicher Beziehung, die Familie als scharf abgegrenztes, von einer einzigen Person juristisch vertretenes, autonomes, organisches Gebilde auftrete, nicht als ein mehr oder minder festes Konglomerat von lauter einzelnen Frag- menten. Schon im politischen Teile dieses Abschnittes sahen wir, dass der Römer es liebte, die Gewalt einzelnen Männern zu übergeben, vertrauend, dass aus Freiheit gepaart mit Verantwortlichkeit, beides im Brennpunkt einer ihrer Individualität bewussten Persönlichkeit vereint, massvolle und zugleich energische, weise Handlung hervor- gehen würde. So auch hier. Später entartete dieses Familienleben; es wurden schlaue Mittel ersonnen, um Surrogate für die wahre Ehe aufzubringen, damit die Frau nicht mehr in die juristische Gewalt des Mannes käme; »die Ehe wurde zu einem Geldgeschäft wie jedes andere; nicht um Familien zu gründen, sondern um die zerrütteten Vermögensverhältnisse durch Heiratsgüter aufzubessern, wurden Ehen geschlossen, und geschlossene getrennt, um neue zu schliessen«; 2) aber trotzdem konnte noch zu Caesar’s Zeiten Publius Syrus als römische Auffassung der Ehe die Zeile schreiben: Perenne animus conjugium, non corpus facit. Die Seele, nicht der Körper, macht die Ehe zu einer immerwährenden. Das ist der Mittelpunkt des römischen Rechtes; der Kontrast mit Griechenland (und mit Deutschland) lässt die Bedeutung eines solchen organischen Mittelpunktes ahnen. Auch hier wieder bewährt sich der Römer, wenn auch als durchaus unsentimentaler, fast peinlich 1) Ausserdem unterlag er der »censorischen Rüge«, sowohl für zu grosse Strenge in der Ausübung seiner väterlichen Rechte wie auch für Nachlässigkeit; siehe Jhering: Geist des römischen Rechtes, § 32. 2) Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 317.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/201>, abgerufen am 24.11.2024.