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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
wurde nun der Mittelpunkt des Pythagoreismus, sein religiöser Hebel,
wenn ich so sagen darf: es war dies die geheim gehaltene Lehre von
der Seelenwanderung. Durch Plato wurde sie dann später des
mystischen Nimbus entkleidet und in die öffentliche Philosophie
hineingetragen. Nun bildete bei den Indern (schon lange vor
Pythagoras) der Glaube an die Seelenwanderung die Grundlage der
ganzen Ethik; politisch, religiös, philosophisch vielfach geteilt und in
offener Gegnerschaft lebend, glaubte dort das ganze Volk an die end-
lose Reihe der Wiedergeburten. "Ob eine Wanderung der Seele
stattfindet, wird (in Indien) nirgends gefragt; sie wird allgemein und
unumstösslich geglaubt."1) Aber es gab dort doch eine Klasse, eine
kleine, welche an die Seelenwanderung insofern nicht glaubte, als sie
diese Vorstellung für eine symbolische hielt, für eine Vorstellung,
welche den im Weltenwahn Befangenen eine höhere, nur durch
tiefes metaphysisches Denken richtiger zu erfassende Wahrheit alle-
gorisch vermittelt: diese kleine Klasse war (und ist noch heute) die
der Philosophen. "Das Wandrersein der Seele beruht auf dem Nicht-
wissen, während die Seele im Sinne der höchsten Realität keine
wandernde ist," lehrt der indische Denker.2) Eine eigentliche "Ge-
heimlehre", wie sie die Griechen nach ägyptischem Muster so liebten,
haben die Inder nie gekannt, Männer aus allen Kasten, auch Weiber
konnten zur höchsten Erkenntnis vordringen; nur wussten diese tief-
sinnigen Weisen sehr gut, dass metaphysisches Denken besondere An-
lagen und besondere Ausbildung dieser Anlagen erfordert; daher
liessen sie das Bildliche bestehen. Und dieses Bildliche, diese gross-
artige, für die Moral vielleicht unersetzliche, schliesslich aber doch
nur volksmässige Vorstellung der Seelenwanderung, welche in Indien
für das gesamte Volk, von oben bis unten, mit einziger Aus-

1) Schröder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 252.
2) Cankara: Sautra's des Vedanta I, 2, 11. Zwar hat Cankara selber viel
später als Pythagoras gelebt (etwa im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung), seine
Lehre ist aber streng orthodox, er wagt keine Behauptung, die sich nicht auf alte,
kanonische Upanishaden stützt. Dass eine thatsächliche "Wanderung" schon nach
den ältesten Upanishaden für den wahrhaft Erkennenden eine nur populären
Zwecken dienende Vorstellung war, ist offenbar. Weitere diesbezügliche Nach-
weise findet man bei Cankara in der Einleitung zu den Sautra's und in I, 1, 4,
vor allem aber in der herrlichen Stelle II, 1, 22, wo der Samsara, mitsamt der
ganzen Schöpfung, als eine Täuschung bezeichnet wird, "welche ebenso wie der
Wahn der Spaltungen und Trennungen durch Geburt und Tod im Sinne der
höchsten Realität nicht existiert".

Hellenische Kunst und Philosophie.
wurde nun der Mittelpunkt des Pythagoreismus, sein religiöser Hebel,
wenn ich so sagen darf: es war dies die geheim gehaltene Lehre von
der Seelenwanderung. Durch Plato wurde sie dann später des
mystischen Nimbus entkleidet und in die öffentliche Philosophie
hineingetragen. Nun bildete bei den Indern (schon lange vor
Pythagoras) der Glaube an die Seelenwanderung die Grundlage der
ganzen Ethik; politisch, religiös, philosophisch vielfach geteilt und in
offener Gegnerschaft lebend, glaubte dort das ganze Volk an die end-
lose Reihe der Wiedergeburten. »Ob eine Wanderung der Seele
stattfindet, wird (in Indien) nirgends gefragt; sie wird allgemein und
unumstösslich geglaubt.«1) Aber es gab dort doch eine Klasse, eine
kleine, welche an die Seelenwanderung insofern nicht glaubte, als sie
diese Vorstellung für eine symbolische hielt, für eine Vorstellung,
welche den im Weltenwahn Befangenen eine höhere, nur durch
tiefes metaphysisches Denken richtiger zu erfassende Wahrheit alle-
gorisch vermittelt: diese kleine Klasse war (und ist noch heute) die
der Philosophen. »Das Wandrersein der Seele beruht auf dem Nicht-
wissen, während die Seele im Sinne der höchsten Realität keine
wandernde ist,« lehrt der indische Denker.2) Eine eigentliche »Ge-
heimlehre«, wie sie die Griechen nach ägyptischem Muster so liebten,
haben die Inder nie gekannt, Männer aus allen Kasten, auch Weiber
konnten zur höchsten Erkenntnis vordringen; nur wussten diese tief-
sinnigen Weisen sehr gut, dass metaphysisches Denken besondere An-
lagen und besondere Ausbildung dieser Anlagen erfordert; daher
liessen sie das Bildliche bestehen. Und dieses Bildliche, diese gross-
artige, für die Moral vielleicht unersetzliche, schliesslich aber doch
nur volksmässige Vorstellung der Seelenwanderung, welche in Indien
für das gesamte Volk, von oben bis unten, mit einziger Aus-

1) Schröder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 252.
2) Çankara: Sûtra’s des Vedânta I, 2, 11. Zwar hat Çankara selber viel
später als Pythagoras gelebt (etwa im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung), seine
Lehre ist aber streng orthodox, er wagt keine Behauptung, die sich nicht auf alte,
kanonische Upanishaden stützt. Dass eine thatsächliche »Wanderung« schon nach
den ältesten Upanishaden für den wahrhaft Erkennenden eine nur populären
Zwecken dienende Vorstellung war, ist offenbar. Weitere diesbezügliche Nach-
weise findet man bei Çankara in der Einleitung zu den Sûtra’s und in I, 1, 4,
vor allem aber in der herrlichen Stelle II, 1, 22, wo der Samsâra, mitsamt der
ganzen Schöpfung, als eine Täuschung bezeichnet wird, »welche ebenso wie der
Wahn der Spaltungen und Trennungen durch Geburt und Tod im Sinne der
höchsten Realität nicht existiert«.
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[111/0134] Hellenische Kunst und Philosophie. wurde nun der Mittelpunkt des Pythagoreismus, sein religiöser Hebel, wenn ich so sagen darf: es war dies die geheim gehaltene Lehre von der Seelenwanderung. Durch Plato wurde sie dann später des mystischen Nimbus entkleidet und in die öffentliche Philosophie hineingetragen. Nun bildete bei den Indern (schon lange vor Pythagoras) der Glaube an die Seelenwanderung die Grundlage der ganzen Ethik; politisch, religiös, philosophisch vielfach geteilt und in offener Gegnerschaft lebend, glaubte dort das ganze Volk an die end- lose Reihe der Wiedergeburten. »Ob eine Wanderung der Seele stattfindet, wird (in Indien) nirgends gefragt; sie wird allgemein und unumstösslich geglaubt.« 1) Aber es gab dort doch eine Klasse, eine kleine, welche an die Seelenwanderung insofern nicht glaubte, als sie diese Vorstellung für eine symbolische hielt, für eine Vorstellung, welche den im Weltenwahn Befangenen eine höhere, nur durch tiefes metaphysisches Denken richtiger zu erfassende Wahrheit alle- gorisch vermittelt: diese kleine Klasse war (und ist noch heute) die der Philosophen. »Das Wandrersein der Seele beruht auf dem Nicht- wissen, während die Seele im Sinne der höchsten Realität keine wandernde ist,« lehrt der indische Denker. 2) Eine eigentliche »Ge- heimlehre«, wie sie die Griechen nach ägyptischem Muster so liebten, haben die Inder nie gekannt, Männer aus allen Kasten, auch Weiber konnten zur höchsten Erkenntnis vordringen; nur wussten diese tief- sinnigen Weisen sehr gut, dass metaphysisches Denken besondere An- lagen und besondere Ausbildung dieser Anlagen erfordert; daher liessen sie das Bildliche bestehen. Und dieses Bildliche, diese gross- artige, für die Moral vielleicht unersetzliche, schliesslich aber doch nur volksmässige Vorstellung der Seelenwanderung, welche in Indien für das gesamte Volk, von oben bis unten, mit einziger Aus- 1) Schröder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 252. 2) Çankara: Sûtra’s des Vedânta I, 2, 11. Zwar hat Çankara selber viel später als Pythagoras gelebt (etwa im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung), seine Lehre ist aber streng orthodox, er wagt keine Behauptung, die sich nicht auf alte, kanonische Upanishaden stützt. Dass eine thatsächliche »Wanderung« schon nach den ältesten Upanishaden für den wahrhaft Erkennenden eine nur populären Zwecken dienende Vorstellung war, ist offenbar. Weitere diesbezügliche Nach- weise findet man bei Çankara in der Einleitung zu den Sûtra’s und in I, 1, 4, vor allem aber in der herrlichen Stelle II, 1, 22, wo der Samsâra, mitsamt der ganzen Schöpfung, als eine Täuschung bezeichnet wird, »welche ebenso wie der Wahn der Spaltungen und Trennungen durch Geburt und Tod im Sinne der höchsten Realität nicht existiert«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/134>, abgerufen am 24.11.2024.