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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
und zwar verderbliche Illusion, und in wesentlichen Hauptstücken das
genaue Gegenteil von der Wahrheit. Es ist nicht wahr, dass die
Griechen der ganzen Welt vorgedacht haben: vor ihnen, neben ihnen,
nach ihnen hat man tiefer, schärfer, richtiger gedacht. Es ist nicht
wahr, dass die geheimrätliche Theologie des Aristoteles ad usum der
Stützen der Gesellschaft das Beste ist, was gesagt werden konnte:
diese jesuitische, scholastische Sophisterei ist die schwarze Pest der
Philosophie geworden. Es ist nicht wahr, dass die griechischen Denker
die alte Religion gereinigt haben: vielmehr haben sie gerade dasjenige
an ihr angegriffen, was ewige Bewunderung verdiente, nämlich ihre
freie, rein künstlerische Schönheit; und indem sie vorgaben, rationelle
Wahrheit an die Stelle der symbolischen zu setzen, griffen sie in
Wirklichkeit nur zum Volksaberglauben und setzten diesen, in logische
Lumpen gehüllt, auf den Thron, von dem sie -- im Verein mit
dem Pöbel -- die ein ewig Wahres verkündende Poesie herab-
gestürzt hatten.

Was das angebliche "Vordenken" anbelangt, so genügt es, auf
zwei Umstände aufmerksam zu machen, um die Irrtümlichkeit dieser
Behauptung darzuthun: erstens haben die Inder früher als die Griechen
zu denken begonnen, sie haben tiefer und konsequenter gedacht, und
sie haben in ihren verschiedenen Systemen mehr Möglichkeiten er-
schöpft als die Griechen, zweitens hat unser eigenes westeuropäisches
Denken erst an dem Tage begonnen, als ein grosser Mann gesagt
hatte: "man muss zugeben, die Philosophie, die wir von den Griechen
überkommen haben, ist kindisch, oder mindestens eher eine Beförderin
des Schwatzens als schöpferisch anregend."1) Behaupten zu wollen,
dass Locke, Gassendi, Hume, Descartes, Kant u. s. w. Wiederkäuer
griechischer Philosophie seien, ist eine arge Versündigung hellenistischen
Grössenwahnsinns gegen unsere neue Kultur. Ein schlagendes Bei-
spiel in Bezug auf das hellenische Denken bietet uns gleich Pythagoras,
ihr erster grosser Weiser. Von seinen Orientreisen brachte er aller-
hand zurück, grosses und kleines, von dem Begriffe der Erlösung an
bis zu der Vorstellung des Äthers und bis zu dem Verbot des
Bohnenessens: es war alles indisches Erbgut. Eine Lehre insbesondere

1) Bacon von Verulam: Instauratio Magna, Vorwort. "Et de utilitate
aperte dicendum est: sapientiam istam, quam a Graecis potissimum hausimus, pueritiam
quandam scientiae videri, atque habere quod proprium est puerorum; ut ad garriendum
prompta, ad generandum invalida et immatura sit. Controversiarum enim ferare,
operum effoeta est."

Das Erbe der alten Welt.
und zwar verderbliche Illusion, und in wesentlichen Hauptstücken das
genaue Gegenteil von der Wahrheit. Es ist nicht wahr, dass die
Griechen der ganzen Welt vorgedacht haben: vor ihnen, neben ihnen,
nach ihnen hat man tiefer, schärfer, richtiger gedacht. Es ist nicht
wahr, dass die geheimrätliche Theologie des Aristoteles ad usum der
Stützen der Gesellschaft das Beste ist, was gesagt werden konnte:
diese jesuitische, scholastische Sophisterei ist die schwarze Pest der
Philosophie geworden. Es ist nicht wahr, dass die griechischen Denker
die alte Religion gereinigt haben: vielmehr haben sie gerade dasjenige
an ihr angegriffen, was ewige Bewunderung verdiente, nämlich ihre
freie, rein künstlerische Schönheit; und indem sie vorgaben, rationelle
Wahrheit an die Stelle der symbolischen zu setzen, griffen sie in
Wirklichkeit nur zum Volksaberglauben und setzten diesen, in logische
Lumpen gehüllt, auf den Thron, von dem sie — im Verein mit
dem Pöbel — die ein ewig Wahres verkündende Poesie herab-
gestürzt hatten.

Was das angebliche »Vordenken« anbelangt, so genügt es, auf
zwei Umstände aufmerksam zu machen, um die Irrtümlichkeit dieser
Behauptung darzuthun: erstens haben die Inder früher als die Griechen
zu denken begonnen, sie haben tiefer und konsequenter gedacht, und
sie haben in ihren verschiedenen Systemen mehr Möglichkeiten er-
schöpft als die Griechen, zweitens hat unser eigenes westeuropäisches
Denken erst an dem Tage begonnen, als ein grosser Mann gesagt
hatte: »man muss zugeben, die Philosophie, die wir von den Griechen
überkommen haben, ist kindisch, oder mindestens eher eine Beförderin
des Schwatzens als schöpferisch anregend.«1) Behaupten zu wollen,
dass Locke, Gassendi, Hume, Descartes, Kant u. s. w. Wiederkäuer
griechischer Philosophie seien, ist eine arge Versündigung hellenistischen
Grössenwahnsinns gegen unsere neue Kultur. Ein schlagendes Bei-
spiel in Bezug auf das hellenische Denken bietet uns gleich Pythagoras,
ihr erster grosser Weiser. Von seinen Orientreisen brachte er aller-
hand zurück, grosses und kleines, von dem Begriffe der Erlösung an
bis zu der Vorstellung des Äthers und bis zu dem Verbot des
Bohnenessens: es war alles indisches Erbgut. Eine Lehre insbesondere

1) Bacon von Verulam: Instauratio Magna, Vorwort. »Et de utilitate
aperte dicendum est: sapientiam istam, quam a Graecis potissimum hausimus, pueritiam
quandam scientiae videri, atque habere quod proprium est puerorum; ut ad garriendum
prompta, ad generandum invalida et immatura sit. Controversiarum enim ferare,
operum effoeta est.«
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[110/0133] Das Erbe der alten Welt. und zwar verderbliche Illusion, und in wesentlichen Hauptstücken das genaue Gegenteil von der Wahrheit. Es ist nicht wahr, dass die Griechen der ganzen Welt vorgedacht haben: vor ihnen, neben ihnen, nach ihnen hat man tiefer, schärfer, richtiger gedacht. Es ist nicht wahr, dass die geheimrätliche Theologie des Aristoteles ad usum der Stützen der Gesellschaft das Beste ist, was gesagt werden konnte: diese jesuitische, scholastische Sophisterei ist die schwarze Pest der Philosophie geworden. Es ist nicht wahr, dass die griechischen Denker die alte Religion gereinigt haben: vielmehr haben sie gerade dasjenige an ihr angegriffen, was ewige Bewunderung verdiente, nämlich ihre freie, rein künstlerische Schönheit; und indem sie vorgaben, rationelle Wahrheit an die Stelle der symbolischen zu setzen, griffen sie in Wirklichkeit nur zum Volksaberglauben und setzten diesen, in logische Lumpen gehüllt, auf den Thron, von dem sie — im Verein mit dem Pöbel — die ein ewig Wahres verkündende Poesie herab- gestürzt hatten. Was das angebliche »Vordenken« anbelangt, so genügt es, auf zwei Umstände aufmerksam zu machen, um die Irrtümlichkeit dieser Behauptung darzuthun: erstens haben die Inder früher als die Griechen zu denken begonnen, sie haben tiefer und konsequenter gedacht, und sie haben in ihren verschiedenen Systemen mehr Möglichkeiten er- schöpft als die Griechen, zweitens hat unser eigenes westeuropäisches Denken erst an dem Tage begonnen, als ein grosser Mann gesagt hatte: »man muss zugeben, die Philosophie, die wir von den Griechen überkommen haben, ist kindisch, oder mindestens eher eine Beförderin des Schwatzens als schöpferisch anregend.« 1) Behaupten zu wollen, dass Locke, Gassendi, Hume, Descartes, Kant u. s. w. Wiederkäuer griechischer Philosophie seien, ist eine arge Versündigung hellenistischen Grössenwahnsinns gegen unsere neue Kultur. Ein schlagendes Bei- spiel in Bezug auf das hellenische Denken bietet uns gleich Pythagoras, ihr erster grosser Weiser. Von seinen Orientreisen brachte er aller- hand zurück, grosses und kleines, von dem Begriffe der Erlösung an bis zu der Vorstellung des Äthers und bis zu dem Verbot des Bohnenessens: es war alles indisches Erbgut. Eine Lehre insbesondere 1) Bacon von Verulam: Instauratio Magna, Vorwort. »Et de utilitate aperte dicendum est: sapientiam istam, quam a Graecis potissimum hausimus, pueritiam quandam scientiae videri, atque habere quod proprium est puerorum; ut ad garriendum prompta, ad generandum invalida et immatura sit. Controversiarum enim ferare, operum effoeta est.«

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/133>, abgerufen am 24.11.2024.