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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Wolf gab, nur Distinctionen und Definitionen erkennen ließ und die
Annahme Gottes als zureichenden Grundes der Welt für die Erklärung
der Lebenserscheinungen noch weniger Anhaltepunkte bot, als bei der
Betrachtung der allgemeinen Naturgesetze. Nun ließ wohl die Zeit der
Aufklärung und der Gewissensfreiheit auch den Sinn von den bloß
wägenden und messenden Beschäftigungen in weitere Gebiete richten.
Fruchtbar wurde diese Erweiterung des Gesichtskreises aber erst, als
auf die geistigen Producte die Einwirkung eines durch Kritik und das
Erwachen des nationalen Gefühls umgestalteten Geschmacks fühlbar
und, selbst mit Ueberschreiten der Grenzen dieses, der Empfindung und
Phantasie neben dem prüfenden Verstande ein Anrecht an den geistigen
Schöpfungen eingeräumt wurde. Hier trat Kant's läuternde und grund-
legende Schöpfung hinein. Die weitere Ausbildung seines Systems
litt aber unter dem individuellen Charakter der Zeit. In dem, nicht
unempfindlich aber ohnmächtig der ungeheuren Demüthigung des Vater-
landes zusehenden Volke mußte der von Fichte einseitig weitergeführte
idealistische Zug der Kant'schen Philosophie begeisternd wirken. Bei den
Forschern aber schlug die nach außen gehemmte Theilnahme und geistige
Thätigkeit in eine philosophische Phantasterei um. Wie Schelling so
schuf sich auch Oken nicht bloß seine, sondern die ganze reale Welt von
innen heraus, die Periode der Kraftgenies auf dem Gebiete des abstrac-
testen Denkens wiederholend, ohne nach einem Beweise für die Gültig-
keit seiner obersten Grundsätze weiter zu fragen. Beide fanden weder
im Volke noch innerhalb der naturwissenschaftlichen Kreise einen regu-
lirenden Widerpart ihrer zügellosen Phantasie. Als aber einzelne von
den Objecten selbst ausgehende Forscher sich ihnen anzuschließen ver-
suchten, mußte unter der Wucht der Erfahrung das ganze System ver-
blassen; es blieb nur die Form übrig, welche je nach der betreffenden
Geistesrichtung jener entweder der ganzen Weltanschauung eine theoso-
phische Gestalt oder der Darstellung von Thatsachen ein allgemein
idealistisches oder mehr oder weniger ästhetisches Gewand verlieh. Im
Allgemeinen hatte aber schon die Thatsache, daß die Erscheinungen der
lebenden Natur nur überhaupt einer philosophischen Betrachtung unter-
worfen wurden, besonders in der Zeit nationalen und poetischen Auf-

Wolf gab, nur Diſtinctionen und Definitionen erkennen ließ und die
Annahme Gottes als zureichenden Grundes der Welt für die Erklärung
der Lebenserſcheinungen noch weniger Anhaltepunkte bot, als bei der
Betrachtung der allgemeinen Naturgeſetze. Nun ließ wohl die Zeit der
Aufklärung und der Gewiſſensfreiheit auch den Sinn von den bloß
wägenden und meſſenden Beſchäftigungen in weitere Gebiete richten.
Fruchtbar wurde dieſe Erweiterung des Geſichtskreiſes aber erſt, als
auf die geiſtigen Producte die Einwirkung eines durch Kritik und das
Erwachen des nationalen Gefühls umgeſtalteten Geſchmacks fühlbar
und, ſelbſt mit Ueberſchreiten der Grenzen dieſes, der Empfindung und
Phantaſie neben dem prüfenden Verſtande ein Anrecht an den geiſtigen
Schöpfungen eingeräumt wurde. Hier trat Kant's läuternde und grund-
legende Schöpfung hinein. Die weitere Ausbildung ſeines Syſtems
litt aber unter dem individuellen Charakter der Zeit. In dem, nicht
unempfindlich aber ohnmächtig der ungeheuren Demüthigung des Vater-
landes zuſehenden Volke mußte der von Fichte einſeitig weitergeführte
idealiſtiſche Zug der Kant'ſchen Philoſophie begeiſternd wirken. Bei den
Forſchern aber ſchlug die nach außen gehemmte Theilnahme und geiſtige
Thätigkeit in eine philoſophiſche Phantaſterei um. Wie Schelling ſo
ſchuf ſich auch Oken nicht bloß ſeine, ſondern die ganze reale Welt von
innen heraus, die Periode der Kraftgenies auf dem Gebiete des abſtrac-
teſten Denkens wiederholend, ohne nach einem Beweiſe für die Gültig-
keit ſeiner oberſten Grundſätze weiter zu fragen. Beide fanden weder
im Volke noch innerhalb der naturwiſſenſchaftlichen Kreiſe einen regu-
lirenden Widerpart ihrer zügelloſen Phantaſie. Als aber einzelne von
den Objecten ſelbſt ausgehende Forſcher ſich ihnen anzuſchließen ver-
ſuchten, mußte unter der Wucht der Erfahrung das ganze Syſtem ver-
blaſſen; es blieb nur die Form übrig, welche je nach der betreffenden
Geiſtesrichtung jener entweder der ganzen Weltanſchauung eine theoſo-
phiſche Geſtalt oder der Darſtellung von Thatſachen ein allgemein
idealiſtiſches oder mehr oder weniger äſthetiſches Gewand verlieh. Im
Allgemeinen hatte aber ſchon die Thatſache, daß die Erſcheinungen der
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worfen wurden, beſonders in der Zeit nationalen und poetiſchen Auf-

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[587/0598] Oken. Wolf gab, nur Diſtinctionen und Definitionen erkennen ließ und die Annahme Gottes als zureichenden Grundes der Welt für die Erklärung der Lebenserſcheinungen noch weniger Anhaltepunkte bot, als bei der Betrachtung der allgemeinen Naturgeſetze. Nun ließ wohl die Zeit der Aufklärung und der Gewiſſensfreiheit auch den Sinn von den bloß wägenden und meſſenden Beſchäftigungen in weitere Gebiete richten. Fruchtbar wurde dieſe Erweiterung des Geſichtskreiſes aber erſt, als auf die geiſtigen Producte die Einwirkung eines durch Kritik und das Erwachen des nationalen Gefühls umgeſtalteten Geſchmacks fühlbar und, ſelbſt mit Ueberſchreiten der Grenzen dieſes, der Empfindung und Phantaſie neben dem prüfenden Verſtande ein Anrecht an den geiſtigen Schöpfungen eingeräumt wurde. Hier trat Kant's läuternde und grund- legende Schöpfung hinein. Die weitere Ausbildung ſeines Syſtems litt aber unter dem individuellen Charakter der Zeit. In dem, nicht unempfindlich aber ohnmächtig der ungeheuren Demüthigung des Vater- landes zuſehenden Volke mußte der von Fichte einſeitig weitergeführte idealiſtiſche Zug der Kant'ſchen Philoſophie begeiſternd wirken. Bei den Forſchern aber ſchlug die nach außen gehemmte Theilnahme und geiſtige Thätigkeit in eine philoſophiſche Phantaſterei um. Wie Schelling ſo ſchuf ſich auch Oken nicht bloß ſeine, ſondern die ganze reale Welt von innen heraus, die Periode der Kraftgenies auf dem Gebiete des abſtrac- teſten Denkens wiederholend, ohne nach einem Beweiſe für die Gültig- keit ſeiner oberſten Grundſätze weiter zu fragen. Beide fanden weder im Volke noch innerhalb der naturwiſſenſchaftlichen Kreiſe einen regu- lirenden Widerpart ihrer zügelloſen Phantaſie. Als aber einzelne von den Objecten ſelbſt ausgehende Forſcher ſich ihnen anzuſchließen ver- ſuchten, mußte unter der Wucht der Erfahrung das ganze Syſtem ver- blaſſen; es blieb nur die Form übrig, welche je nach der betreffenden Geiſtesrichtung jener entweder der ganzen Weltanſchauung eine theoſo- phiſche Geſtalt oder der Darſtellung von Thatſachen ein allgemein idealiſtiſches oder mehr oder weniger äſthetiſches Gewand verlieh. Im Allgemeinen hatte aber ſchon die Thatſache, daß die Erſcheinungen der lebenden Natur nur überhaupt einer philoſophiſchen Betrachtung unter- worfen wurden, beſonders in der Zeit nationalen und poetiſchen Auf-

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/598>, abgerufen am 22.11.2024.