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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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allmähliche Heraustreten einzelner Organe, "das Loslösen einzelner Or-
gane aus dem vollkommnen Thierleibe". Er erhält zunächst Geweid-
thiere
, welche in ihrer Entwickelung beim ungeschiedenen Eingeweide
stehn geblieben sind, Hautthiere, welche die Eingeweide mit Fell
umgeben haben, diese sind entweder Fellthiere oder Gliederthiere, und
Fleischthiere oder Gesichtsthiere, die eigentlichen "thierigen"
Thiere. Jede Unterabtheilung soll nun Wiederholungen früherer Zu-
stände oder das allmähliche Aufbauen andeuten; so zerfallen beispiels-
weise die Geweidthiere in Zellstoffthiere, Kugelstoffthiere, Faserstoffthiere
und Punktstoffthiere, die Gesichtsthiere in Geweidgesichtsthiere, Fell-
gesichtsthiere, Gliedergesichtsthiere und vollendete Gesichtsthiere. In
der letzten Bearbeitung seiner Naturphilosophie2) legt Oken die anato-
mischen vier Hauptsysteme in einer übrigens gleichen Weise zu Grunde
und theilt das Thierreich in Darm-, Gefäß-, Athem- und Fleischthiere,
wobei er dann die letzteren nach den vier höheren Sinnesorganen
in Zungen-, Nasen-, Ohr- und Augenthiere scheidet. Von einem Er-
fassen eines thierischen Bauplans und den verschiedenen genetischen
Stufen eines solchen ist trotz aller Redensarten nichts zu merken. In
der ersten Auflage der Naturgeschichte führt er sogar von den zunächst
nach den Elementen eingetheilten niedersten Thieren an bei den Unter-
abtheilungen starr die Zahl vier durch alle weiteren Classen durch und
bringt damit die künstliche Unnatur aufs Höchste. Daß der Embryo
höherer Thiere die Formenzustände niederer Classen durchlaufe, hatte
schon 1793 Kielmeyer ausgesprochen, dies war also nicht Oken's
Verdienst. Uebrigens hat die Idee nur dann wirklich Anregendes, wenn
sie bei entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungen innerhalb der einzelnen
Typen beachtet wird; außerdem verleitet sie zu vagen Spielereien mit
Analogien.

Auf eine solche naturphilosophische Spielerei ist auch Oken's Ent-
deckung von der Zusammensetzung des Schädels aus Wirbeln zurückzu-

2) "Jede Thierclasse und jede Thiergattung ist charakterisirt durch den aus-
schließlichen Besitz eigenthümlicher Organe." So leitet er die erste "Entwickelung
der wissenschaftlichen Systematik der Thiere" ein. In: Oken und Kieser, Bei-
träge zur vergleich. Zoologie. 1. Heft, 1806. S. 103.

allmähliche Heraustreten einzelner Organe, „das Loslöſen einzelner Or-
gane aus dem vollkommnen Thierleibe“. Er erhält zunächſt Geweid-
thiere
, welche in ihrer Entwickelung beim ungeſchiedenen Eingeweide
ſtehn geblieben ſind, Hautthiere, welche die Eingeweide mit Fell
umgeben haben, dieſe ſind entweder Fellthiere oder Gliederthiere, und
Fleiſchthiere oder Geſichtsthiere, die eigentlichen „thierigen“
Thiere. Jede Unterabtheilung ſoll nun Wiederholungen früherer Zu-
ſtände oder das allmähliche Aufbauen andeuten; ſo zerfallen beiſpiels-
weiſe die Geweidthiere in Zellſtoffthiere, Kugelſtoffthiere, Faſerſtoffthiere
und Punktſtoffthiere, die Geſichtsthiere in Geweidgeſichtsthiere, Fell-
geſichtsthiere, Gliedergeſichtsthiere und vollendete Geſichtsthiere. In
der letzten Bearbeitung ſeiner Naturphiloſophie2) legt Oken die anato-
miſchen vier Hauptſyſteme in einer übrigens gleichen Weiſe zu Grunde
und theilt das Thierreich in Darm-, Gefäß-, Athem- und Fleiſchthiere,
wobei er dann die letzteren nach den vier höheren Sinnesorganen
in Zungen-, Naſen-, Ohr- und Augenthiere ſcheidet. Von einem Er-
faſſen eines thieriſchen Bauplans und den verſchiedenen genetiſchen
Stufen eines ſolchen iſt trotz aller Redensarten nichts zu merken. In
der erſten Auflage der Naturgeſchichte führt er ſogar von den zunächſt
nach den Elementen eingetheilten niederſten Thieren an bei den Unter-
abtheilungen ſtarr die Zahl vier durch alle weiteren Claſſen durch und
bringt damit die künſtliche Unnatur aufs Höchſte. Daß der Embryo
höherer Thiere die Formenzuſtände niederer Claſſen durchlaufe, hatte
ſchon 1793 Kielmeyer ausgeſprochen, dies war alſo nicht Oken's
Verdienſt. Uebrigens hat die Idee nur dann wirklich Anregendes, wenn
ſie bei entwickelungsgeſchichtlichen Betrachtungen innerhalb der einzelnen
Typen beachtet wird; außerdem verleitet ſie zu vagen Spielereien mit
Analogien.

Auf eine ſolche naturphiloſophiſche Spielerei iſt auch Oken's Ent-
deckung von der Zuſammenſetzung des Schädels aus Wirbeln zurückzu-

2) „Jede Thierclaſſe und jede Thiergattung iſt charakteriſirt durch den aus-
ſchließlichen Beſitz eigenthümlicher Organe.“ So leitet er die erſte „Entwickelung
der wiſſenſchaftlichen Syſtematik der Thiere“ ein. In: Oken und Kieſer, Bei-
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[583/0594] Oken. allmähliche Heraustreten einzelner Organe, „das Loslöſen einzelner Or- gane aus dem vollkommnen Thierleibe“. Er erhält zunächſt Geweid- thiere, welche in ihrer Entwickelung beim ungeſchiedenen Eingeweide ſtehn geblieben ſind, Hautthiere, welche die Eingeweide mit Fell umgeben haben, dieſe ſind entweder Fellthiere oder Gliederthiere, und Fleiſchthiere oder Geſichtsthiere, die eigentlichen „thierigen“ Thiere. Jede Unterabtheilung ſoll nun Wiederholungen früherer Zu- ſtände oder das allmähliche Aufbauen andeuten; ſo zerfallen beiſpiels- weiſe die Geweidthiere in Zellſtoffthiere, Kugelſtoffthiere, Faſerſtoffthiere und Punktſtoffthiere, die Geſichtsthiere in Geweidgeſichtsthiere, Fell- geſichtsthiere, Gliedergeſichtsthiere und vollendete Geſichtsthiere. In der letzten Bearbeitung ſeiner Naturphiloſophie 2) legt Oken die anato- miſchen vier Hauptſyſteme in einer übrigens gleichen Weiſe zu Grunde und theilt das Thierreich in Darm-, Gefäß-, Athem- und Fleiſchthiere, wobei er dann die letzteren nach den vier höheren Sinnesorganen in Zungen-, Naſen-, Ohr- und Augenthiere ſcheidet. Von einem Er- faſſen eines thieriſchen Bauplans und den verſchiedenen genetiſchen Stufen eines ſolchen iſt trotz aller Redensarten nichts zu merken. In der erſten Auflage der Naturgeſchichte führt er ſogar von den zunächſt nach den Elementen eingetheilten niederſten Thieren an bei den Unter- abtheilungen ſtarr die Zahl vier durch alle weiteren Claſſen durch und bringt damit die künſtliche Unnatur aufs Höchſte. Daß der Embryo höherer Thiere die Formenzuſtände niederer Claſſen durchlaufe, hatte ſchon 1793 Kielmeyer ausgeſprochen, dies war alſo nicht Oken's Verdienſt. Uebrigens hat die Idee nur dann wirklich Anregendes, wenn ſie bei entwickelungsgeſchichtlichen Betrachtungen innerhalb der einzelnen Typen beachtet wird; außerdem verleitet ſie zu vagen Spielereien mit Analogien. Auf eine ſolche naturphiloſophiſche Spielerei iſt auch Oken's Ent- deckung von der Zuſammenſetzung des Schädels aus Wirbeln zurückzu- 2) „Jede Thierclaſſe und jede Thiergattung iſt charakteriſirt durch den aus- ſchließlichen Beſitz eigenthümlicher Organe.“ So leitet er die erſte „Entwickelung der wiſſenſchaftlichen Syſtematik der Thiere“ ein. In: Oken und Kieſer, Bei- träge zur vergleich. Zoologie. 1. Heft, 1806. S. 103.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/594>, abgerufen am 23.07.2024.