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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der Morphologie.
auf das Centrum. Es wird wohl an diesen Beispielen von der Ver-
wendung leerer Vergleichungsformeln zur systematischen Erklärung
realer Vorgänge genügen. Was die allgemeinen anatomischen Grund-
sätze betrifft, so schreibt sich Oken bekanntlich die Vorhersage der Zell-
theorie zu. Der Organismus als Ebenbild des Planeten muß auch die
entsprechende Form haben, die Sphäre. Der Urschleim ist kugelförmig,
besteht aber aus einer Unendlichkeit von Punkten. Durch Sollicitation
(?) der Luft tritt in dem organischen Punkte eine Opposition des Flüssi-
gen und Festen hervor, es wird ein Bläschen. Das schleimige Urbläschen
heißt Infusorium. Pflanzen und Thiere sind Metamorphosen von In-
fusorien. Alle Organismen bestehn aus Infusorien (d. h. Schleim-
punkte ohne Individualität) und lösen sich bei der Zerstörung in solche
auf. Die Grundsubstanz des Thiers ist Punktsubstanz. Man könnte
glauben, da das Thier eine Blüthenblase (eine empfindende Geschlechts-
blase) ist, müßte auch die Blasenform oder Zellform ihm zum Grund
liegen, allein es ist ein andres Verhältniß als in der Pflanze. Diese
thierische Blase ist eine schon organisirte Blase, ein Organ, nicht mehr
Massentheil eines anatomischen Systems. Daher kann diese Blase
nicht in die Textur der thierischen Masse eingehn." "Die niedersten
Thiere bestehn aus Punktmasse." Mit diesen Sätzen hebt er denn die
geforderte Gleichheit des der Gewebeentwickelung zu Grunde liegenden
Elementartheils auf. -- Oken's systematische Ansichten fußen gleichfalls
auf Ableitungen aus seinen obersten Grundsätzen, denen er aber noch
eine Anzahl dictatorischer Aussprüche zufügt, nach deren Begründung
man vergebens sucht. Er will zwar den Versuch machen, von den Ele-
menten und Elementarvorgängen aus die höheren Formen und Processe
abzuleiten; man hat ihm daher auch eine Art Transmutationslehre zu-
geschrieben, aber ohne daß er irgendwie es unternommen hätte, Ver-
wandlungen der Formen anders als philosophisch zu erklären. Dann
ist ihm indessen auch das Thierreich der auseinandergelegte Menschen-
leib, wie er bei seinen allgemeinen morphologischen Phantasien sich nicht
über den Typus der Wirbelthiere hinaus begibt und auch die Glieder-
thiere nach diesem erklären will. Princip seiner Eintheilung1) ist das

1) in der 1847 von der Ray Society herausgegebenen englischen Uebersetzung
von A. Tulk.

Periode der Morphologie.
auf das Centrum. Es wird wohl an dieſen Beiſpielen von der Ver-
wendung leerer Vergleichungsformeln zur ſyſtematiſchen Erklärung
realer Vorgänge genügen. Was die allgemeinen anatomiſchen Grund-
ſätze betrifft, ſo ſchreibt ſich Oken bekanntlich die Vorherſage der Zell-
theorie zu. Der Organismus als Ebenbild des Planeten muß auch die
entſprechende Form haben, die Sphäre. Der Urſchleim iſt kugelförmig,
beſteht aber aus einer Unendlichkeit von Punkten. Durch Sollicitation
(?) der Luft tritt in dem organiſchen Punkte eine Oppoſition des Flüſſi-
gen und Feſten hervor, es wird ein Bläschen. Das ſchleimige Urbläschen
heißt Infuſorium. Pflanzen und Thiere ſind Metamorphoſen von In-
fuſorien. Alle Organismen beſtehn aus Infuſorien (d. h. Schleim-
punkte ohne Individualität) und löſen ſich bei der Zerſtörung in ſolche
auf. Die Grundſubſtanz des Thiers iſt Punktſubſtanz. Man könnte
glauben, da das Thier eine Blüthenblaſe (eine empfindende Geſchlechts-
blaſe) iſt, müßte auch die Blaſenform oder Zellform ihm zum Grund
liegen, allein es iſt ein andres Verhältniß als in der Pflanze. Dieſe
thieriſche Blaſe iſt eine ſchon organiſirte Blaſe, ein Organ, nicht mehr
Maſſentheil eines anatomiſchen Syſtems. Daher kann dieſe Blaſe
nicht in die Textur der thieriſchen Maſſe eingehn.“ „Die niederſten
Thiere beſtehn aus Punktmaſſe.“ Mit dieſen Sätzen hebt er denn die
geforderte Gleichheit des der Gewebeentwickelung zu Grunde liegenden
Elementartheils auf. — Oken's ſyſtematiſche Anſichten fußen gleichfalls
auf Ableitungen aus ſeinen oberſten Grundſätzen, denen er aber noch
eine Anzahl dictatoriſcher Ausſprüche zufügt, nach deren Begründung
man vergebens ſucht. Er will zwar den Verſuch machen, von den Ele-
menten und Elementarvorgängen aus die höheren Formen und Proceſſe
abzuleiten; man hat ihm daher auch eine Art Transmutationslehre zu-
geſchrieben, aber ohne daß er irgendwie es unternommen hätte, Ver-
wandlungen der Formen anders als philoſophiſch zu erklären. Dann
iſt ihm indeſſen auch das Thierreich der auseinandergelegte Menſchen-
leib, wie er bei ſeinen allgemeinen morphologiſchen Phantaſien ſich nicht
über den Typus der Wirbelthiere hinaus begibt und auch die Glieder-
thiere nach dieſem erklären will. Princip ſeiner Eintheilung1) iſt das

1) in der 1847 von der Ray Society herausgegebenen engliſchen Ueberſetzung
von A. Tulk.
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[582/0593] Periode der Morphologie. auf das Centrum. Es wird wohl an dieſen Beiſpielen von der Ver- wendung leerer Vergleichungsformeln zur ſyſtematiſchen Erklärung realer Vorgänge genügen. Was die allgemeinen anatomiſchen Grund- ſätze betrifft, ſo ſchreibt ſich Oken bekanntlich die Vorherſage der Zell- theorie zu. Der Organismus als Ebenbild des Planeten muß auch die entſprechende Form haben, die Sphäre. Der Urſchleim iſt kugelförmig, beſteht aber aus einer Unendlichkeit von Punkten. Durch Sollicitation (?) der Luft tritt in dem organiſchen Punkte eine Oppoſition des Flüſſi- gen und Feſten hervor, es wird ein Bläschen. Das ſchleimige Urbläschen heißt Infuſorium. Pflanzen und Thiere ſind Metamorphoſen von In- fuſorien. Alle Organismen beſtehn aus Infuſorien (d. h. Schleim- punkte ohne Individualität) und löſen ſich bei der Zerſtörung in ſolche auf. Die Grundſubſtanz des Thiers iſt Punktſubſtanz. Man könnte glauben, da das Thier eine Blüthenblaſe (eine empfindende Geſchlechts- blaſe) iſt, müßte auch die Blaſenform oder Zellform ihm zum Grund liegen, allein es iſt ein andres Verhältniß als in der Pflanze. Dieſe thieriſche Blaſe iſt eine ſchon organiſirte Blaſe, ein Organ, nicht mehr Maſſentheil eines anatomiſchen Syſtems. Daher kann dieſe Blaſe nicht in die Textur der thieriſchen Maſſe eingehn.“ „Die niederſten Thiere beſtehn aus Punktmaſſe.“ Mit dieſen Sätzen hebt er denn die geforderte Gleichheit des der Gewebeentwickelung zu Grunde liegenden Elementartheils auf. — Oken's ſyſtematiſche Anſichten fußen gleichfalls auf Ableitungen aus ſeinen oberſten Grundſätzen, denen er aber noch eine Anzahl dictatoriſcher Ausſprüche zufügt, nach deren Begründung man vergebens ſucht. Er will zwar den Verſuch machen, von den Ele- menten und Elementarvorgängen aus die höheren Formen und Proceſſe abzuleiten; man hat ihm daher auch eine Art Transmutationslehre zu- geſchrieben, aber ohne daß er irgendwie es unternommen hätte, Ver- wandlungen der Formen anders als philoſophiſch zu erklären. Dann iſt ihm indeſſen auch das Thierreich der auseinandergelegte Menſchen- leib, wie er bei ſeinen allgemeinen morphologiſchen Phantaſien ſich nicht über den Typus der Wirbelthiere hinaus begibt und auch die Glieder- thiere nach dieſem erklären will. Princip ſeiner Eintheilung 1) iſt das 1) in der 1847 von der Ray Society herausgegebenen engliſchen Ueberſetzung von A. Tulk.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/593>, abgerufen am 22.11.2024.