Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Periode der Systematik.
vor Allem das Streben, ohne die nöthige inductive Grundlage sofort
einzelne Fälle unter allgemeine Gesichtspunkte als Regeln oder Gesetze
zusammenzufassen, was zur Zeit des Erwachens wissenschaftlicher Re-
gungen der baren Leichtgläubigkeit so großen Vorschub leistete. Eigen-
thümlich muß es wohl berühren, wenn Leeuwenhoek in der Form des
Samenkörperchens die Gestalt des künftigen Thierkörpers, in demsel-
ben daher den eigentlichen der Entwickelung zu Grunde liegenden Keim
erblickt, ohne daß er sich über die Verbreitung der Samenelemente in
andern Thierclassen und über das dort herrschende Verhältniß zwischen
der Form dieses Elementes und der Gestalt des entwickelten Thieres
durch ausgedehntere Untersuchungen eine einigermaßen stichhaltige
Controle verschafft hätte. Hier liegt aber außer der vorzeitigen Verall-
gemeinerung das Spiel einer durch den merkwürdigen Fund etwas er-
hitzten Fantasie vor, könnte man zur Entschuldigung sagen. Soll aber
nicht alles Vertrauen in die Naturgeschichte der betreffenden Zeit auf-
hören, wenn man Mittheilungenv on Beobachtungen liest, wie z. B. die
folgende, welche ohne Aeußerung einer Kritik einfach mit glaubwürdiger
Miene erzählt werden? Peter Rommel schildert in einer 1680 in
Ulm erschienenen Dissertation1) Hasenembryonen, welche frei und nir-
gends angewachsen in der Bauchhöhle liegend gefunden worden seien.
Er hatte sie von einem Jäger mitgetheilt erhalten. Daß er dabei der
Angabe des Laien Glauben schenkte, würde keiner Erwähnung werth
sein; Aehnliches fällt gelegentlich selbst heutigen Tages noch vor. Aber
im Verlaufe seiner Erörterung erzählt er alles Ernstes, daß in Frei-
burg eine Frau durch Erbrechen eine Katze von sich gegeben habe,
welche "sie im Magen empfangen habe", und führt ferner an, Dr.
Matthaei in Freiberg habe selbst eine lebendige Gans gehabt, welche
aus dem Uterus einer Frau hervorgegangen sei. Dies ist ein Beispiel
unter mehreren. Die Hexenprocesse fieng man mit Erfolg zu bekämpfen
an; Hexereien in der Natur glaubte man. Aber nicht bloß derartige
ungereimte Wunder giengen um; im Volke lebte noch immer eine durch

1) Petr. Rommel, de foetibus leporinis extra uterum repertis. Ulm,
1680.

Periode der Syſtematik.
vor Allem das Streben, ohne die nöthige inductive Grundlage ſofort
einzelne Fälle unter allgemeine Geſichtspunkte als Regeln oder Geſetze
zuſammenzufaſſen, was zur Zeit des Erwachens wiſſenſchaftlicher Re-
gungen der baren Leichtgläubigkeit ſo großen Vorſchub leiſtete. Eigen-
thümlich muß es wohl berühren, wenn Leeuwenhoek in der Form des
Samenkörperchens die Geſtalt des künftigen Thierkörpers, in demſel-
ben daher den eigentlichen der Entwickelung zu Grunde liegenden Keim
erblickt, ohne daß er ſich über die Verbreitung der Samenelemente in
andern Thierclaſſen und über das dort herrſchende Verhältniß zwiſchen
der Form dieſes Elementes und der Geſtalt des entwickelten Thieres
durch ausgedehntere Unterſuchungen eine einigermaßen ſtichhaltige
Controle verſchafft hätte. Hier liegt aber außer der vorzeitigen Verall-
gemeinerung das Spiel einer durch den merkwürdigen Fund etwas er-
hitzten Fantaſie vor, könnte man zur Entſchuldigung ſagen. Soll aber
nicht alles Vertrauen in die Naturgeſchichte der betreffenden Zeit auf-
hören, wenn man Mittheilungenv on Beobachtungen lieſt, wie z. B. die
folgende, welche ohne Aeußerung einer Kritik einfach mit glaubwürdiger
Miene erzählt werden? Peter Rommel ſchildert in einer 1680 in
Ulm erſchienenen Diſſertation1) Haſenembryonen, welche frei und nir-
gends angewachſen in der Bauchhöhle liegend gefunden worden ſeien.
Er hatte ſie von einem Jäger mitgetheilt erhalten. Daß er dabei der
Angabe des Laien Glauben ſchenkte, würde keiner Erwähnung werth
ſein; Aehnliches fällt gelegentlich ſelbſt heutigen Tages noch vor. Aber
im Verlaufe ſeiner Erörterung erzählt er alles Ernſtes, daß in Frei-
burg eine Frau durch Erbrechen eine Katze von ſich gegeben habe,
welche „ſie im Magen empfangen habe“, und führt ferner an, Dr.
Matthaei in Freiberg habe ſelbſt eine lebendige Gans gehabt, welche
aus dem Uterus einer Frau hervorgegangen ſei. Dies iſt ein Beiſpiel
unter mehreren. Die Hexenproceſſe fieng man mit Erfolg zu bekämpfen
an; Hexereien in der Natur glaubte man. Aber nicht bloß derartige
ungereimte Wunder giengen um; im Volke lebte noch immer eine durch

1) Petr. Rommel, de foetibus leporinis extra uterum repertis. Ulm,
1680.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0399" n="388"/><fw place="top" type="header">Periode der Sy&#x017F;tematik.</fw><lb/>
vor Allem das Streben, ohne die nöthige inductive Grundlage &#x017F;ofort<lb/>
einzelne Fälle unter allgemeine Ge&#x017F;ichtspunkte als Regeln oder Ge&#x017F;etze<lb/>
zu&#x017F;ammenzufa&#x017F;&#x017F;en, was zur Zeit des Erwachens wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher Re-<lb/>
gungen der baren Leichtgläubigkeit &#x017F;o großen Vor&#x017F;chub lei&#x017F;tete. Eigen-<lb/>
thümlich muß es wohl berühren, wenn <persName ref="http://d-nb.info/gnd/119188279">Leeuwenhoek</persName> in der Form des<lb/>
Samenkörperchens die Ge&#x017F;talt des künftigen Thierkörpers, in dem&#x017F;el-<lb/>
ben daher den eigentlichen der Entwickelung zu Grunde liegenden Keim<lb/>
erblickt, ohne daß er &#x017F;ich über die Verbreitung der Samenelemente in<lb/>
andern Thiercla&#x017F;&#x017F;en und über das dort herr&#x017F;chende Verhältniß zwi&#x017F;chen<lb/>
der Form die&#x017F;es Elementes und der Ge&#x017F;talt des entwickelten Thieres<lb/>
durch ausgedehntere Unter&#x017F;uchungen eine einigermaßen &#x017F;tichhaltige<lb/>
Controle ver&#x017F;chafft hätte. Hier liegt aber außer der vorzeitigen Verall-<lb/>
gemeinerung das Spiel einer durch den merkwürdigen Fund etwas er-<lb/>
hitzten Fanta&#x017F;ie vor, könnte man zur Ent&#x017F;chuldigung &#x017F;agen. Soll aber<lb/>
nicht alles Vertrauen in die Naturge&#x017F;chichte der betreffenden Zeit auf-<lb/>
hören, wenn man Mittheilungenv on Beobachtungen lie&#x017F;t, wie z. B. die<lb/>
folgende, welche ohne Aeußerung einer Kritik einfach mit glaubwürdiger<lb/>
Miene erzählt werden? <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/124534694">Peter Rommel</persName></hi> &#x017F;childert in einer 1680 in<lb/>
Ulm er&#x017F;chienenen Di&#x017F;&#x017F;ertation<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/124534694">Petr. Rommel</persName></hi>, de foetibus leporinis extra uterum repertis. Ulm,<lb/>
1680.</hi></note> Ha&#x017F;enembryonen, welche frei und nir-<lb/>
gends angewach&#x017F;en in der Bauchhöhle liegend gefunden worden &#x017F;eien.<lb/>
Er hatte &#x017F;ie von einem Jäger mitgetheilt erhalten. Daß er dabei der<lb/>
Angabe des Laien Glauben &#x017F;chenkte, würde keiner Erwähnung werth<lb/>
&#x017F;ein; Aehnliches fällt gelegentlich &#x017F;elb&#x017F;t heutigen Tages noch vor. Aber<lb/>
im Verlaufe &#x017F;einer Erörterung erzählt er alles Ern&#x017F;tes, daß in Frei-<lb/>
burg eine Frau durch Erbrechen eine Katze von &#x017F;ich gegeben habe,<lb/>
welche &#x201E;&#x017F;ie im Magen empfangen habe&#x201C;, und führt ferner an, <hi rendition="#aq">Dr.</hi><lb/>
Matthaei in Freiberg habe &#x017F;elb&#x017F;t eine lebendige Gans gehabt, welche<lb/>
aus dem Uterus einer Frau hervorgegangen &#x017F;ei. Dies i&#x017F;t ein Bei&#x017F;piel<lb/>
unter mehreren. Die Hexenproce&#x017F;&#x017F;e fieng man mit Erfolg zu bekämpfen<lb/>
an; Hexereien in der Natur glaubte man. Aber nicht bloß derartige<lb/>
ungereimte Wunder giengen um; im Volke lebte noch immer eine durch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[388/0399] Periode der Syſtematik. vor Allem das Streben, ohne die nöthige inductive Grundlage ſofort einzelne Fälle unter allgemeine Geſichtspunkte als Regeln oder Geſetze zuſammenzufaſſen, was zur Zeit des Erwachens wiſſenſchaftlicher Re- gungen der baren Leichtgläubigkeit ſo großen Vorſchub leiſtete. Eigen- thümlich muß es wohl berühren, wenn Leeuwenhoek in der Form des Samenkörperchens die Geſtalt des künftigen Thierkörpers, in demſel- ben daher den eigentlichen der Entwickelung zu Grunde liegenden Keim erblickt, ohne daß er ſich über die Verbreitung der Samenelemente in andern Thierclaſſen und über das dort herrſchende Verhältniß zwiſchen der Form dieſes Elementes und der Geſtalt des entwickelten Thieres durch ausgedehntere Unterſuchungen eine einigermaßen ſtichhaltige Controle verſchafft hätte. Hier liegt aber außer der vorzeitigen Verall- gemeinerung das Spiel einer durch den merkwürdigen Fund etwas er- hitzten Fantaſie vor, könnte man zur Entſchuldigung ſagen. Soll aber nicht alles Vertrauen in die Naturgeſchichte der betreffenden Zeit auf- hören, wenn man Mittheilungenv on Beobachtungen lieſt, wie z. B. die folgende, welche ohne Aeußerung einer Kritik einfach mit glaubwürdiger Miene erzählt werden? Peter Rommel ſchildert in einer 1680 in Ulm erſchienenen Diſſertation 1) Haſenembryonen, welche frei und nir- gends angewachſen in der Bauchhöhle liegend gefunden worden ſeien. Er hatte ſie von einem Jäger mitgetheilt erhalten. Daß er dabei der Angabe des Laien Glauben ſchenkte, würde keiner Erwähnung werth ſein; Aehnliches fällt gelegentlich ſelbſt heutigen Tages noch vor. Aber im Verlaufe ſeiner Erörterung erzählt er alles Ernſtes, daß in Frei- burg eine Frau durch Erbrechen eine Katze von ſich gegeben habe, welche „ſie im Magen empfangen habe“, und führt ferner an, Dr. Matthaei in Freiberg habe ſelbſt eine lebendige Gans gehabt, welche aus dem Uterus einer Frau hervorgegangen ſei. Dies iſt ein Beiſpiel unter mehreren. Die Hexenproceſſe fieng man mit Erfolg zu bekämpfen an; Hexereien in der Natur glaubte man. Aber nicht bloß derartige ungereimte Wunder giengen um; im Volke lebte noch immer eine durch 1) Petr. Rommel, de foetibus leporinis extra uterum repertis. Ulm, 1680.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/399
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/399>, abgerufen am 16.06.2024.