Aristoteles (Hist. anim. VIII, 30) erzählt. Der Teleologie wird reich- lich Rechnung getragen und in vorkommenden Fällen die Unzweck- mäßigkeit nicht verschwiegen, wie es z. B. als eine solche aufgefaßt wird, daß der Delphin seinen Mund an der untern Fläche der schnabel- artigen Schnauzenspitze habe; dies sei eine Unvorsichtigkeit der Natur, sagt Thomas201). Eine nicht unbedeutende Rolle bei der Schilderung der einzelnen Thiere spielt auch deren medicinische Verwendung; doch tritt bei Anführung des Heilgebrauchs das eigentliche naturgeschichtliche Interesse nicht so in den Hintergrund, daß etwa die betreffenden Ab- schnitte eine Art populärer Heilmittellehre, wie manche spätern Werke über Naturgeschichte, geworden wäre.
Auf den Menschen folgen zunächst die vierfüßigen Thiere, dann die Vögel; die nächst abgehandelten Seemonstra umfassen theils Wal- thiere, theils Fische; das folgende Buch handelt von den Fluß- und Meerfischen. Dann folgen die Schlangen und den Beschluß machen die Würmer, worunter Insecten, Würmer, einige Mollusken, aber auch Frösche und Kröten begriffen werden. Nimmt man also das erste Buch hinzu, so enthält das Werk eine vollständige anatomische und zoologische Encyklopädie. Mit Ausnahme des Buches von den Menschen sind die einzelnen Schilderungen wie erwähnt alphabetisch geordnet. Dabei wurden die Thiernamen so aufgenommen, wie sie sich in den ausschließ- lich lateinischen Quellen vorfanden, welche der Verfasser benutzte. Denn daß Thomas kein Griechisch verstand, wie Frühere, sogar Roger Bacon behaupten wollen, wird aus vielen Stellen seiner Schrift be- wiesen. So sagt er, um statt vieler Belege nur ein paar anzuführen, Agochiles (richtiger wohl Agothiles zu lesen, das griechische Aigothelas) sei ein arabisches Wort und bedeute: Milch der Ziegen saugend; ferner Cygnus komme von canere, singen, auf Griechisch heiße er olor, was eigentlich ganz (olos!) heiße; Schwäne seien nämlich stets ganz weiß.
Die Zahl der einzelnen von längeren oder kürzeren Beschreibun- gen oder Erzählungen eingeführten Thiere ist nicht unbedeutend; doch
201)Improvidentia, nach anderer Lesart imprudentia naturae.
Die Zoologie des Mittelalters.
Ariſtoteles (Hist. anim. VIII, 30) erzählt. Der Teleologie wird reich- lich Rechnung getragen und in vorkommenden Fällen die Unzweck- mäßigkeit nicht verſchwiegen, wie es z. B. als eine ſolche aufgefaßt wird, daß der Delphin ſeinen Mund an der untern Fläche der ſchnabel- artigen Schnauzenſpitze habe; dies ſei eine Unvorſichtigkeit der Natur, ſagt Thomas201). Eine nicht unbedeutende Rolle bei der Schilderung der einzelnen Thiere ſpielt auch deren mediciniſche Verwendung; doch tritt bei Anführung des Heilgebrauchs das eigentliche naturgeſchichtliche Intereſſe nicht ſo in den Hintergrund, daß etwa die betreffenden Ab- ſchnitte eine Art populärer Heilmittellehre, wie manche ſpätern Werke über Naturgeſchichte, geworden wäre.
Auf den Menſchen folgen zunächſt die vierfüßigen Thiere, dann die Vögel; die nächſt abgehandelten Seemonſtra umfaſſen theils Wal- thiere, theils Fiſche; das folgende Buch handelt von den Fluß- und Meerfiſchen. Dann folgen die Schlangen und den Beſchluß machen die Würmer, worunter Inſecten, Würmer, einige Mollusken, aber auch Fröſche und Kröten begriffen werden. Nimmt man alſo das erſte Buch hinzu, ſo enthält das Werk eine vollſtändige anatomiſche und zoologiſche Encyklopädie. Mit Ausnahme des Buches von den Menſchen ſind die einzelnen Schilderungen wie erwähnt alphabetiſch geordnet. Dabei wurden die Thiernamen ſo aufgenommen, wie ſie ſich in den ausſchließ- lich lateiniſchen Quellen vorfanden, welche der Verfaſſer benutzte. Denn daß Thomas kein Griechiſch verſtand, wie Frühere, ſogar Roger Bacon behaupten wollen, wird aus vielen Stellen ſeiner Schrift be- wieſen. So ſagt er, um ſtatt vieler Belege nur ein paar anzuführen, Agochiles (richtiger wohl Agothiles zu leſen, das griechiſche Aigothelas) ſei ein arabiſches Wort und bedeute: Milch der Ziegen ſaugend; ferner Cygnus komme von canere, ſingen, auf Griechiſch heiße er olor, was eigentlich ganz (ὄλος!) heiße; Schwäne ſeien nämlich ſtets ganz weiß.
Die Zahl der einzelnen von längeren oder kürzeren Beſchreibun- gen oder Erzählungen eingeführten Thiere iſt nicht unbedeutend; doch
201)Improvidentia, nach anderer Lesart imprudentia naturae.
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Die Zoologie des Mittelalters.
Ariſtoteles (Hist. anim. VIII, 30) erzählt. Der Teleologie wird reich-
lich Rechnung getragen und in vorkommenden Fällen die Unzweck-
mäßigkeit nicht verſchwiegen, wie es z. B. als eine ſolche aufgefaßt
wird, daß der Delphin ſeinen Mund an der untern Fläche der ſchnabel-
artigen Schnauzenſpitze habe; dies ſei eine Unvorſichtigkeit der Natur,
ſagt Thomas 201). Eine nicht unbedeutende Rolle bei der Schilderung
der einzelnen Thiere ſpielt auch deren mediciniſche Verwendung; doch
tritt bei Anführung des Heilgebrauchs das eigentliche naturgeſchichtliche
Intereſſe nicht ſo in den Hintergrund, daß etwa die betreffenden Ab-
ſchnitte eine Art populärer Heilmittellehre, wie manche ſpätern Werke
über Naturgeſchichte, geworden wäre.
Auf den Menſchen folgen zunächſt die vierfüßigen Thiere, dann
die Vögel; die nächſt abgehandelten Seemonſtra umfaſſen theils Wal-
thiere, theils Fiſche; das folgende Buch handelt von den Fluß- und
Meerfiſchen. Dann folgen die Schlangen und den Beſchluß machen die
Würmer, worunter Inſecten, Würmer, einige Mollusken, aber auch
Fröſche und Kröten begriffen werden. Nimmt man alſo das erſte Buch
hinzu, ſo enthält das Werk eine vollſtändige anatomiſche und zoologiſche
Encyklopädie. Mit Ausnahme des Buches von den Menſchen ſind die
einzelnen Schilderungen wie erwähnt alphabetiſch geordnet. Dabei
wurden die Thiernamen ſo aufgenommen, wie ſie ſich in den ausſchließ-
lich lateiniſchen Quellen vorfanden, welche der Verfaſſer benutzte.
Denn daß Thomas kein Griechiſch verſtand, wie Frühere, ſogar Roger
Bacon behaupten wollen, wird aus vielen Stellen ſeiner Schrift be-
wieſen. So ſagt er, um ſtatt vieler Belege nur ein paar anzuführen,
Agochiles (richtiger wohl Agothiles zu leſen, das griechiſche Aigothelas)
ſei ein arabiſches Wort und bedeute: Milch der Ziegen ſaugend;
ferner Cygnus komme von canere, ſingen, auf Griechiſch heiße er olor,
was eigentlich ganz (ὄλος!) heiße; Schwäne ſeien nämlich ſtets ganz
weiß.
Die Zahl der einzelnen von längeren oder kürzeren Beſchreibun-
gen oder Erzählungen eingeführten Thiere iſt nicht unbedeutend; doch
201) Improvidentia, nach anderer Lesart imprudentia naturae.
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/227>, abgerufen am 24.11.2024.
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