naturgemäße Auffassung der Thiere zu Tage. Der Verfasser legt sich doch, wenn ihm in der Natur des gerade Behandelten etwas Auffälli- ges begegnet, oft Fragen vor, welche er, so gut es eben geht, zu beant- worten sucht. Namentlich sind aber die Einleitungen zu den den Thie- ren gewidmeten Büchern so rein naturhistorisch gehalten und von den fast nur allegorischen und mystischen Betrachtungen der früheren Zeiten so verschieden, daß man in ihnen in der That die ersten Beispiele allge- mein naturgeschichtlicher Charakterisirung einzelner Classen in neuerer Zeit findet. Freilich ist dabei nicht etwa an eine systematische Schilde- rung zu denken. So wenig Aristoteles seine großen Gattungen definirte, so wenig hält es Thomas für nothwendig, die schon in der Sprache gegebenen und meist im Aristoteles wiedergefundenen allgemeinen Gruppen zunächst als systematische Abtheilungen zu bezeichnen.
Besonders das vierte, den vierfüßigen Thieren gewidmete Buch enthält sowohl in der Einleitung, als in dem nach dem Alphabet der Thiernamen geordneten Texte zahlreiche Moralisationen, welche sich in den folgenden Büchern zwar auch, aber lange nicht so häufig finden. Den wichtigsten Theil der Einleitungen machen vergleichend zoologische Bemerkungen aus, vorzüglich nach Aristoteles; so z. B. alle Thiere mit zwei oder vier Füßen oder ohne solche haben Blut, die vielfüßigen haben kein Blut; alle Thiere mit Ohren haben diese beweglich, außer dem Menschen; alle vierfüßigen Thiere mit Hörnern haben keine oberen Schneidezähne; alle Thiere mit Augenlidern schließen diese im Schlafe, außer dem Löwen und dem Hasen. Dazwischen kommen freilich auch an den praktischen Geistlichen erinnernde Betrachtungen vor; so wenn er untersucht, ob die monströsen Menschen von Adam abstammen, oder warum der Mensch keine angeborenen Vertheidigungsmittel oder Waffen besitzt. In Bezug auf die anatomischen Vorbegriffe steht Thomas noch auf dem Standpunkte der Alten, wie die Sehnen z. B. bei ihm noch Ner- ven heißen. Die allgemeinen physiologischen Anschauungen des Verfas- sers sind im Ganzen die des Aristoteles. Das Falsche wird hier mit dem Richtigen aus dieser Quelle entnommen, wenn er z. B. vom Meer- thier Chilon (dem Chelon des Aristoteles, einer Art kestreus, Mugil) anführt, es ernähre sich nur von seinem eigenen Schleim, ganz wie es
Das dreizehnte Jahrhundert.
naturgemäße Auffaſſung der Thiere zu Tage. Der Verfaſſer legt ſich doch, wenn ihm in der Natur des gerade Behandelten etwas Auffälli- ges begegnet, oft Fragen vor, welche er, ſo gut es eben geht, zu beant- worten ſucht. Namentlich ſind aber die Einleitungen zu den den Thie- ren gewidmeten Büchern ſo rein naturhiſtoriſch gehalten und von den faſt nur allegoriſchen und myſtiſchen Betrachtungen der früheren Zeiten ſo verſchieden, daß man in ihnen in der That die erſten Beiſpiele allge- mein naturgeſchichtlicher Charakteriſirung einzelner Claſſen in neuerer Zeit findet. Freilich iſt dabei nicht etwa an eine ſyſtematiſche Schilde- rung zu denken. So wenig Ariſtoteles ſeine großen Gattungen definirte, ſo wenig hält es Thomas für nothwendig, die ſchon in der Sprache gegebenen und meiſt im Ariſtoteles wiedergefundenen allgemeinen Gruppen zunächſt als ſyſtematiſche Abtheilungen zu bezeichnen.
Beſonders das vierte, den vierfüßigen Thieren gewidmete Buch enthält ſowohl in der Einleitung, als in dem nach dem Alphabet der Thiernamen geordneten Texte zahlreiche Moraliſationen, welche ſich in den folgenden Büchern zwar auch, aber lange nicht ſo häufig finden. Den wichtigſten Theil der Einleitungen machen vergleichend zoologiſche Bemerkungen aus, vorzüglich nach Ariſtoteles; ſo z. B. alle Thiere mit zwei oder vier Füßen oder ohne ſolche haben Blut, die vielfüßigen haben kein Blut; alle Thiere mit Ohren haben dieſe beweglich, außer dem Menſchen; alle vierfüßigen Thiere mit Hörnern haben keine oberen Schneidezähne; alle Thiere mit Augenlidern ſchließen dieſe im Schlafe, außer dem Löwen und dem Haſen. Dazwiſchen kommen freilich auch an den praktiſchen Geiſtlichen erinnernde Betrachtungen vor; ſo wenn er unterſucht, ob die monſtröſen Menſchen von Adam abſtammen, oder warum der Menſch keine angeborenen Vertheidigungsmittel oder Waffen beſitzt. In Bezug auf die anatomiſchen Vorbegriffe ſteht Thomas noch auf dem Standpunkte der Alten, wie die Sehnen z. B. bei ihm noch Ner- ven heißen. Die allgemeinen phyſiologiſchen Anſchauungen des Verfaſ- ſers ſind im Ganzen die des Ariſtoteles. Das Falſche wird hier mit dem Richtigen aus dieſer Quelle entnommen, wenn er z. B. vom Meer- thier Chilon (dem Chelon des Ariſtoteles, einer Art kestreus, Mugil) anführt, es ernähre ſich nur von ſeinem eigenen Schleim, ganz wie es
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Das dreizehnte Jahrhundert.
naturgemäße Auffaſſung der Thiere zu Tage. Der Verfaſſer legt ſich
doch, wenn ihm in der Natur des gerade Behandelten etwas Auffälli-
ges begegnet, oft Fragen vor, welche er, ſo gut es eben geht, zu beant-
worten ſucht. Namentlich ſind aber die Einleitungen zu den den Thie-
ren gewidmeten Büchern ſo rein naturhiſtoriſch gehalten und von den
faſt nur allegoriſchen und myſtiſchen Betrachtungen der früheren Zeiten
ſo verſchieden, daß man in ihnen in der That die erſten Beiſpiele allge-
mein naturgeſchichtlicher Charakteriſirung einzelner Claſſen in neuerer
Zeit findet. Freilich iſt dabei nicht etwa an eine ſyſtematiſche Schilde-
rung zu denken. So wenig Ariſtoteles ſeine großen Gattungen definirte,
ſo wenig hält es Thomas für nothwendig, die ſchon in der Sprache
gegebenen und meiſt im Ariſtoteles wiedergefundenen allgemeinen
Gruppen zunächſt als ſyſtematiſche Abtheilungen zu bezeichnen.
Beſonders das vierte, den vierfüßigen Thieren gewidmete Buch
enthält ſowohl in der Einleitung, als in dem nach dem Alphabet der
Thiernamen geordneten Texte zahlreiche Moraliſationen, welche ſich in
den folgenden Büchern zwar auch, aber lange nicht ſo häufig finden.
Den wichtigſten Theil der Einleitungen machen vergleichend zoologiſche
Bemerkungen aus, vorzüglich nach Ariſtoteles; ſo z. B. alle Thiere
mit zwei oder vier Füßen oder ohne ſolche haben Blut, die vielfüßigen
haben kein Blut; alle Thiere mit Ohren haben dieſe beweglich, außer
dem Menſchen; alle vierfüßigen Thiere mit Hörnern haben keine oberen
Schneidezähne; alle Thiere mit Augenlidern ſchließen dieſe im Schlafe,
außer dem Löwen und dem Haſen. Dazwiſchen kommen freilich auch
an den praktiſchen Geiſtlichen erinnernde Betrachtungen vor; ſo wenn
er unterſucht, ob die monſtröſen Menſchen von Adam abſtammen, oder
warum der Menſch keine angeborenen Vertheidigungsmittel oder Waffen
beſitzt. In Bezug auf die anatomiſchen Vorbegriffe ſteht Thomas noch
auf dem Standpunkte der Alten, wie die Sehnen z. B. bei ihm noch Ner-
ven heißen. Die allgemeinen phyſiologiſchen Anſchauungen des Verfaſ-
ſers ſind im Ganzen die des Ariſtoteles. Das Falſche wird hier mit dem
Richtigen aus dieſer Quelle entnommen, wenn er z. B. vom Meer-
thier Chilon (dem Chelon des Ariſtoteles, einer Art kestreus, Mugil)
anführt, es ernähre ſich nur von ſeinem eigenen Schleim, ganz wie es
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/226>, abgerufen am 24.11.2024.
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