Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Das dreizehnte Jahrhundert.
Mönche gewesen sei, welche den Genuß von Vögeln an Fasttagen da-
durch zu einem erlaubten zu machen gesucht hätten, daß sie die Vögel
als vegetabilische Erzeugnisse hinstellten. Nach jenen Berichten allein
zu urtheilen wäre ungefähr das Ende des zwölften Jahrhunderts die
Zeit der Entstehung dieser Fabel gewesen. Diese Annahme läßt sich
jedoch nicht halten; vielmehr weisen andere Erscheinungen auf ein höhe-
res Alter der wundersamen Geschichte, ebenso wie auf einen andern
Entstehungsort hin, wenngleich beides sich leider nicht so fest bestimmen
läßt, daß man die allmähliche Verbreitung Schritt für Schritt verfol-
gen könnte.

In der nordeuropäischen Form der Fabel ist die Bernikelgans
(Anser bernicla L.)Gegenstand derselben geworden159). Der älteste
für die Existenz der muschelentspringenden Vögel angeführte Schrift-
steller ist im Norden Saxo Grammaticus; welches Land er aber
als Heimath der Baumgänse anführe, wird nicht berichtet160). Ziem-
lich weit südlich verlegt das Vorkommen derselben Gervasius Til-
boriensis
(schrieb um 1210), welcher eine Küstengegend des Erzbis-
thums Canterbury in Kent in der Nähe der Abtei Faverthsam als Fund-
ort bezeichnet161). Sylvester Giraldus (Cambrensis, geb. 1146,
starb nach 1220) schildert die Vögel als in Irland vorkommend162).
An der flandrischen Küste sollen sie nach der Angabe des Jacobus de

159) Ueber die nordische Verbreitung der Sage und die Etymologie des Na-
mens s. M. Müller, Lectures on the science of language. 2. Series. Lon-
don,
1864. S. 536 flgde.
160) citirt von Seb. Münster, Cosmographia p. 49. Es ist mir nicht
geglückt, die Stelle im Saxo aufzufinden. Münster führt die Insel Pomonia,
quae haud procul abest a Scotia versus aquilonem
als Aufenthaltsort der
Baumgans an, also die Orkney-Inseln.
161) Otia imperialia. Dec. III. cap. CXXIII (Druckfehler CXXXIII) in:
Leibnitz, Scriptores rerum Brunsvicens. I. p. 1004: "ad confinium al-
baciae de Faverethsam",
soll wohl heißen abbatiae. Er nennt den Vogel Bar-
neta.
162) Topographia Hiberniae cap. XI. De Bernacis ex abietibus nascen-
tibus earumque natura in: Anglica, Hibernica, Normannica, Cambrica a
veteribus scripta etc. Francofurt. 1602. p. 706.
Er führt zuerst den Genuß
dieser Vögel in den Fasten an, tadelt denselben und meint, man hätte da auch von
Adams Fleische essen dürfen, da auch er nicht de carne natus gewesen sei.

Das dreizehnte Jahrhundert.
Mönche geweſen ſei, welche den Genuß von Vögeln an Faſttagen da-
durch zu einem erlaubten zu machen geſucht hätten, daß ſie die Vögel
als vegetabiliſche Erzeugniſſe hinſtellten. Nach jenen Berichten allein
zu urtheilen wäre ungefähr das Ende des zwölften Jahrhunderts die
Zeit der Entſtehung dieſer Fabel geweſen. Dieſe Annahme läßt ſich
jedoch nicht halten; vielmehr weiſen andere Erſcheinungen auf ein höhe-
res Alter der wunderſamen Geſchichte, ebenſo wie auf einen andern
Entſtehungsort hin, wenngleich beides ſich leider nicht ſo feſt beſtimmen
läßt, daß man die allmähliche Verbreitung Schritt für Schritt verfol-
gen könnte.

In der nordeuropäiſchen Form der Fabel iſt die Bernikelgans
(Anser bernicla L.)Gegenſtand derſelben geworden159). Der älteſte
für die Exiſtenz der muſchelentſpringenden Vögel angeführte Schrift-
ſteller iſt im Norden Saxo Grammaticus; welches Land er aber
als Heimath der Baumgänſe anführe, wird nicht berichtet160). Ziem-
lich weit ſüdlich verlegt das Vorkommen derſelben Gervaſius Til-
borienſis
(ſchrieb um 1210), welcher eine Küſtengegend des Erzbis-
thums Canterbury in Kent in der Nähe der Abtei Faverthſam als Fund-
ort bezeichnet161). Sylveſter Giraldus (Cambrenſis, geb. 1146,
ſtarb nach 1220) ſchildert die Vögel als in Irland vorkommend162).
An der flandriſchen Küſte ſollen ſie nach der Angabe des Jacobus de

159) Ueber die nordiſche Verbreitung der Sage und die Etymologie des Na-
mens ſ. M. Müller, Lectures on the science of language. 2. Series. Lon-
don,
1864. S. 536 flgde.
160) citirt von Seb. Münster, Cosmographia p. 49. Es iſt mir nicht
geglückt, die Stelle im Saxo aufzufinden. Münſter führt die Inſel Pomonia,
quae haud procul abest a Scotia versus aquilonem
als Aufenthaltsort der
Baumgans an, alſo die Orkney-Inſeln.
161) Otia imperialia. Dec. III. cap. CXXIII (Druckfehler CXXXIII) in:
Leibnitz, Scriptores rerum Brunsvicens. I. p. 1004: „ad confinium al-
baciae de Faverethsam“,
ſoll wohl heißen abbatiae. Er nennt den Vogel Bar-
neta.
162) Topographia Hiberniae cap. XI. De Bernacis ex abietibus nascen-
tibus earumque natura in: Anglica, Hibernica, Normannica, Cambrica a
veteribus scripta etc. Francofurt. 1602. p. 706.
Er führt zuerſt den Genuß
dieſer Vögel in den Faſten an, tadelt denſelben und meint, man hätte da auch von
Adams Fleiſche eſſen dürfen, da auch er nicht de carne natus geweſen ſei.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0202" n="191"/><fw place="top" type="header">Das dreizehnte Jahrhundert.</fw><lb/>
Mönche gewe&#x017F;en &#x017F;ei, welche den Genuß von Vögeln an Fa&#x017F;ttagen da-<lb/>
durch zu einem erlaubten zu machen ge&#x017F;ucht hätten, daß &#x017F;ie die Vögel<lb/>
als vegetabili&#x017F;che Erzeugni&#x017F;&#x017F;e hin&#x017F;tellten. Nach jenen Berichten allein<lb/>
zu urtheilen wäre ungefähr das Ende des zwölften Jahrhunderts die<lb/>
Zeit der Ent&#x017F;tehung die&#x017F;er Fabel gewe&#x017F;en. Die&#x017F;e Annahme läßt &#x017F;ich<lb/>
jedoch nicht halten; vielmehr wei&#x017F;en andere Er&#x017F;cheinungen auf ein höhe-<lb/>
res Alter der wunder&#x017F;amen Ge&#x017F;chichte, eben&#x017F;o wie auf einen andern<lb/>
Ent&#x017F;tehungsort hin, wenngleich beides &#x017F;ich leider nicht &#x017F;o fe&#x017F;t be&#x017F;timmen<lb/>
läßt, daß man die allmähliche Verbreitung Schritt für Schritt verfol-<lb/>
gen könnte.</p><lb/>
            <p>In der nordeuropäi&#x017F;chen Form der Fabel i&#x017F;t die Bernikelgans<lb/>
(<hi rendition="#aq">Anser bernicla L.</hi>)Gegen&#x017F;tand der&#x017F;elben geworden<note place="foot" n="159)">Ueber die nordi&#x017F;che Verbreitung der Sage und die Etymologie des Na-<lb/>
mens &#x017F;. <hi rendition="#aq"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118737449">M. <hi rendition="#g">Müller</hi></persName>, Lectures on the science of language. 2. Series. Lon-<lb/>
don,</hi> 1864. S. 536 flgde.</note>. Der älte&#x017F;te<lb/>
für die Exi&#x017F;tenz der mu&#x017F;chelent&#x017F;pringenden Vögel angeführte Schrift-<lb/>
&#x017F;teller i&#x017F;t im Norden <hi rendition="#g">Saxo Grammaticus</hi>; welches Land er aber<lb/>
als Heimath der Baumgän&#x017F;e anführe, wird nicht berichtet<note place="foot" n="160)">citirt von <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Seb</hi>. <hi rendition="#g">Münster</hi>, Cosmographia p. 49.</hi> Es i&#x017F;t mir nicht<lb/>
geglückt, die Stelle im Saxo aufzufinden. <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/12053343X">Mün&#x017F;ter</persName></hi> führt die In&#x017F;el <hi rendition="#aq">Pomonia,<lb/>
quae haud procul abest a <placeName>Scotia</placeName> versus aquilonem</hi> als Aufenthaltsort der<lb/>
Baumgans an, al&#x017F;o die Orkney-In&#x017F;eln.</note>. Ziem-<lb/>
lich weit &#x017F;üdlich verlegt das Vorkommen der&#x017F;elben <hi rendition="#g">Gerva&#x017F;ius Til-<lb/>
borien&#x017F;is</hi> (&#x017F;chrieb um 1210), welcher eine Kü&#x017F;tengegend des Erzbis-<lb/>
thums Canterbury in Kent in der Nähe der Abtei Faverth&#x017F;am als Fund-<lb/>
ort bezeichnet<note place="foot" n="161)"><hi rendition="#aq">Otia imperialia. Dec. III. cap. CXXIII</hi> (Druckfehler <hi rendition="#aq">CXXXIII</hi>) in:<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118571249">Leibnitz</persName></hi>, Scriptores rerum Brunsvicens. <hi rendition="#aq">I.</hi> p. 1004: &#x201E;ad confinium al-<lb/>
baciae de Faverethsam&#x201C;,</hi> &#x017F;oll wohl heißen <hi rendition="#aq">abbatiae.</hi> Er nennt den Vogel <hi rendition="#aq">Bar-<lb/>
neta.</hi></note>. <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118717618">Sylve&#x017F;ter Giraldus</persName></hi> (Cambren&#x017F;is, geb. 1146,<lb/>
&#x017F;tarb nach 1220) &#x017F;childert die Vögel als in Irland vorkommend<note place="foot" n="162)"><hi rendition="#aq">Topographia Hiberniae cap. XI. De Bernacis ex abietibus nascen-<lb/>
tibus earumque natura in: Anglica, Hibernica, Normannica, Cambrica a<lb/>
veteribus scripta etc. Francofurt. 1602. p. 706.</hi> Er führt zuer&#x017F;t den Genuß<lb/>
die&#x017F;er Vögel in den Fa&#x017F;ten an, tadelt den&#x017F;elben und meint, man hätte da auch von<lb/>
Adams Flei&#x017F;che e&#x017F;&#x017F;en dürfen, da auch er nicht <hi rendition="#aq">de carne natus</hi> gewe&#x017F;en &#x017F;ei.</note>.<lb/>
An der flandri&#x017F;chen Kü&#x017F;te &#x017F;ollen &#x017F;ie nach der Angabe des <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118711563">Jacobus</persName> de<lb/></hi></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0202] Das dreizehnte Jahrhundert. Mönche geweſen ſei, welche den Genuß von Vögeln an Faſttagen da- durch zu einem erlaubten zu machen geſucht hätten, daß ſie die Vögel als vegetabiliſche Erzeugniſſe hinſtellten. Nach jenen Berichten allein zu urtheilen wäre ungefähr das Ende des zwölften Jahrhunderts die Zeit der Entſtehung dieſer Fabel geweſen. Dieſe Annahme läßt ſich jedoch nicht halten; vielmehr weiſen andere Erſcheinungen auf ein höhe- res Alter der wunderſamen Geſchichte, ebenſo wie auf einen andern Entſtehungsort hin, wenngleich beides ſich leider nicht ſo feſt beſtimmen läßt, daß man die allmähliche Verbreitung Schritt für Schritt verfol- gen könnte. In der nordeuropäiſchen Form der Fabel iſt die Bernikelgans (Anser bernicla L.)Gegenſtand derſelben geworden 159). Der älteſte für die Exiſtenz der muſchelentſpringenden Vögel angeführte Schrift- ſteller iſt im Norden Saxo Grammaticus; welches Land er aber als Heimath der Baumgänſe anführe, wird nicht berichtet 160). Ziem- lich weit ſüdlich verlegt das Vorkommen derſelben Gervaſius Til- borienſis (ſchrieb um 1210), welcher eine Küſtengegend des Erzbis- thums Canterbury in Kent in der Nähe der Abtei Faverthſam als Fund- ort bezeichnet 161). Sylveſter Giraldus (Cambrenſis, geb. 1146, ſtarb nach 1220) ſchildert die Vögel als in Irland vorkommend 162). An der flandriſchen Küſte ſollen ſie nach der Angabe des Jacobus de 159) Ueber die nordiſche Verbreitung der Sage und die Etymologie des Na- mens ſ. M. Müller, Lectures on the science of language. 2. Series. Lon- don, 1864. S. 536 flgde. 160) citirt von Seb. Münster, Cosmographia p. 49. Es iſt mir nicht geglückt, die Stelle im Saxo aufzufinden. Münſter führt die Inſel Pomonia, quae haud procul abest a Scotia versus aquilonem als Aufenthaltsort der Baumgans an, alſo die Orkney-Inſeln. 161) Otia imperialia. Dec. III. cap. CXXIII (Druckfehler CXXXIII) in: Leibnitz, Scriptores rerum Brunsvicens. I. p. 1004: „ad confinium al- baciae de Faverethsam“, ſoll wohl heißen abbatiae. Er nennt den Vogel Bar- neta. 162) Topographia Hiberniae cap. XI. De Bernacis ex abietibus nascen- tibus earumque natura in: Anglica, Hibernica, Normannica, Cambrica a veteribus scripta etc. Francofurt. 1602. p. 706. Er führt zuerſt den Genuß dieſer Vögel in den Faſten an, tadelt denſelben und meint, man hätte da auch von Adams Fleiſche eſſen dürfen, da auch er nicht de carne natus geweſen ſei.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/202
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/202>, abgerufen am 15.05.2024.