Stand des Wissens und der Cultur am Ende des zwölften Jahrh.
eng mit ihm sich verknüpfende Ideal eines allgemeinen Kampfes der Christenheit gegen die Ungläubigen das Interesse für das nächst Lie- gende wieder abgezogen.
Die Kreuzzüge brachten aber dem Abendlande eine Menge neuer Anschauungen. Schon früher hatten zwar Wanderungen und Buß- fahrten nach dem heiligen Lande Gelegenheit gegeben, manche orienta- lische Sage im Abendlande nicht absterben zu lassen. Zuweilen wurden durch Gesandschaften zwischen morgen- und abendländischen Herrschern (z. B. Karl dem Großen und Harun al Raschid) Geschenke ausgetauscht, welche auch die naturhistorischen Bilder des Volkes mit neuen Zutha- ten bereicherten. Die mythische Zurückführung westeuropäischer Völker auf einzelne Theile des griechischen Sagenkreises, die Verbreitung man- cher alexandrinischen Wundergeschichte findet vielleicht durch Aehnliches ihre Erklärung. Eine wirkungsreichere und nachhaltigere Anregung er- hielt aber das Abendland doch erst mit den Kreuzzügen, deren Folgen in geistiger Beziehung hier noch besonders zu schildern kaum nöthig ist. Während sich aber durch dieselben der Blick im Allgemeinen erweitern lernte, erwachte auch im Schoße des Klerus, besonders des westfrän- kischen, der nur zeitweise zurückgetretene Speculationseifer von neuem. Dem unbedingten Autoritätsglauben traten immer häufiger Versuche entgegen, durch eine selbständigere freiere Erfassung einzelner Lehren des Mysteriums dasselbe zugänglicher, die Heilswahrheiten, in deren ausschließlichem Besitz zu sein die römische Curie immer entschiedener behauptete, menschlich faßbarer zu machen. Wenn nun aber derartige, oft zu erbitterten Streiten führende Meinungsverschiedenheiten dem ungebildeten großen Haufen gegenüber erst nach und nach eine Wirkung äußerten, so daß die Theilnahme der weltlichen Bevölkerung erst spät zu Tage trat, so war es vorzüglich das äußere Leben des niedern wie höchsten Klerus, welches zu Angriffen von allen Seiten dringend auf- forderte. Beide Momente waren für die Vorbereitung und Entwicke- lung der im dreizehnten Jahrhundert auftretenden litterarischen Erschei- nungen von größter Bedeutung.
Mit dem erst erwähnten Umstande hängt die Entwickelung einer allgemeinen philosophischen Auffassung zusammen, welche an die nur
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Stand des Wiſſens und der Cultur am Ende des zwölften Jahrh.
eng mit ihm ſich verknüpfende Ideal eines allgemeinen Kampfes der Chriſtenheit gegen die Ungläubigen das Intereſſe für das nächſt Lie- gende wieder abgezogen.
Die Kreuzzüge brachten aber dem Abendlande eine Menge neuer Anſchauungen. Schon früher hatten zwar Wanderungen und Buß- fahrten nach dem heiligen Lande Gelegenheit gegeben, manche orienta- liſche Sage im Abendlande nicht abſterben zu laſſen. Zuweilen wurden durch Geſandſchaften zwiſchen morgen- und abendländiſchen Herrſchern (z. B. Karl dem Großen und Harun al Raſchid) Geſchenke ausgetauſcht, welche auch die naturhiſtoriſchen Bilder des Volkes mit neuen Zutha- ten bereicherten. Die mythiſche Zurückführung weſteuropäiſcher Völker auf einzelne Theile des griechiſchen Sagenkreiſes, die Verbreitung man- cher alexandriniſchen Wundergeſchichte findet vielleicht durch Aehnliches ihre Erklärung. Eine wirkungsreichere und nachhaltigere Anregung er- hielt aber das Abendland doch erſt mit den Kreuzzügen, deren Folgen in geiſtiger Beziehung hier noch beſonders zu ſchildern kaum nöthig iſt. Während ſich aber durch dieſelben der Blick im Allgemeinen erweitern lernte, erwachte auch im Schoße des Klerus, beſonders des weſtfrän- kiſchen, der nur zeitweiſe zurückgetretene Speculationseifer von neuem. Dem unbedingten Autoritätsglauben traten immer häufiger Verſuche entgegen, durch eine ſelbſtändigere freiere Erfaſſung einzelner Lehren des Myſteriums daſſelbe zugänglicher, die Heilswahrheiten, in deren ausſchließlichem Beſitz zu ſein die römiſche Curie immer entſchiedener behauptete, menſchlich faßbarer zu machen. Wenn nun aber derartige, oft zu erbitterten Streiten führende Meinungsverſchiedenheiten dem ungebildeten großen Haufen gegenüber erſt nach und nach eine Wirkung äußerten, ſo daß die Theilnahme der weltlichen Bevölkerung erſt ſpät zu Tage trat, ſo war es vorzüglich das äußere Leben des niedern wie höchſten Klerus, welches zu Angriffen von allen Seiten dringend auf- forderte. Beide Momente waren für die Vorbereitung und Entwicke- lung der im dreizehnten Jahrhundert auftretenden litterariſchen Erſchei- nungen von größter Bedeutung.
Mit dem erſt erwähnten Umſtande hängt die Entwickelung einer allgemeinen philoſophiſchen Auffaſſung zuſammen, welche an die nur
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Stand des Wiſſens und der Cultur am Ende des zwölften Jahrh.
eng mit ihm ſich verknüpfende Ideal eines allgemeinen Kampfes der
Chriſtenheit gegen die Ungläubigen das Intereſſe für das nächſt Lie-
gende wieder abgezogen.
Die Kreuzzüge brachten aber dem Abendlande eine Menge neuer
Anſchauungen. Schon früher hatten zwar Wanderungen und Buß-
fahrten nach dem heiligen Lande Gelegenheit gegeben, manche orienta-
liſche Sage im Abendlande nicht abſterben zu laſſen. Zuweilen wurden
durch Geſandſchaften zwiſchen morgen- und abendländiſchen Herrſchern
(z. B. Karl dem Großen und Harun al Raſchid) Geſchenke ausgetauſcht,
welche auch die naturhiſtoriſchen Bilder des Volkes mit neuen Zutha-
ten bereicherten. Die mythiſche Zurückführung weſteuropäiſcher Völker
auf einzelne Theile des griechiſchen Sagenkreiſes, die Verbreitung man-
cher alexandriniſchen Wundergeſchichte findet vielleicht durch Aehnliches
ihre Erklärung. Eine wirkungsreichere und nachhaltigere Anregung er-
hielt aber das Abendland doch erſt mit den Kreuzzügen, deren Folgen
in geiſtiger Beziehung hier noch beſonders zu ſchildern kaum nöthig iſt.
Während ſich aber durch dieſelben der Blick im Allgemeinen erweitern
lernte, erwachte auch im Schoße des Klerus, beſonders des weſtfrän-
kiſchen, der nur zeitweiſe zurückgetretene Speculationseifer von neuem.
Dem unbedingten Autoritätsglauben traten immer häufiger Verſuche
entgegen, durch eine ſelbſtändigere freiere Erfaſſung einzelner Lehren
des Myſteriums daſſelbe zugänglicher, die Heilswahrheiten, in deren
ausſchließlichem Beſitz zu ſein die römiſche Curie immer entſchiedener
behauptete, menſchlich faßbarer zu machen. Wenn nun aber derartige,
oft zu erbitterten Streiten führende Meinungsverſchiedenheiten dem
ungebildeten großen Haufen gegenüber erſt nach und nach eine Wirkung
äußerten, ſo daß die Theilnahme der weltlichen Bevölkerung erſt ſpät
zu Tage trat, ſo war es vorzüglich das äußere Leben des niedern wie
höchſten Klerus, welches zu Angriffen von allen Seiten dringend auf-
forderte. Beide Momente waren für die Vorbereitung und Entwicke-
lung der im dreizehnten Jahrhundert auftretenden litterariſchen Erſchei-
nungen von größter Bedeutung.
Mit dem erſt erwähnten Umſtande hängt die Entwickelung einer
allgemeinen philoſophiſchen Auffaſſung zuſammen, welche an die nur
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/158>, abgerufen am 16.02.2025.
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