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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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hat auf geistige Entwicklung der Seele. Man darf sagen:
daß, wie in sich die Seele das Wunder des geistigen Bewußt¬
seins, nur sich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung
einer gewissen natürlichen Organisation, so auch nun der
Geist selbst den Reichthum, gesunder Gedanken und Erkennt¬
nisse nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu
und rein die Geschichte der Natur um ihn her in dem
Wesen ihrer innern Folge in sich aufnimmt. Dieses reine
Verhältniß zur Natur ist daher auch von jeher als ein
Heiliges in der Menschheit von den Besten verehrt worden,
und ganz eigen wirkt in dieser Beziehung eine Stelle im
Euripides, welche auf eine Weise, wie sie nur einem
alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieses My¬
sterium ausspricht. Es ist die Stelle des Hippolyt an
Artemis:

"Hier diesen frischgeflochtnen Kranz, o Herrscherin!
Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir,
Wo nicht der Hirt zu weiden seine Heerde wagt,
Noch Eisen eindrang jemals, nein die Biene nur
An unentweihter Frühlingsau' vorüberschwärmt,
Und wo die Unschuld Gärten pflegt mit Quellenthau,
Daß, wer nichts Angelerntes, sondern von Natur
Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat,
Daraus darf pflücken; Sündern aber ist's versagt."

Nur von hier aus ist es daher zu verstehen, warum
die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck
"natürlich" so hoch stellt und als das Siegel eines voll¬
kommen Angemessenen erkennt. Es ist allerdings für die
nähere sorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬
würdiges, daß dieselbe innere organische Folge, dieselbe
tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es bestimmt, daß
in der und der Richtung die Strömungen der Meere und
die Bewegungen der Gestirne gehen, und daß der Fort¬
gang der Entwicklung eines Mooses wie der einer Palme
nur gerade so und nicht anders sich verhalten kann, daß
diese auch da herrschen müssen, wo eine wahrhaft schöne
Reihe von Gedanken sich entfalten und im Geiste sich be¬

hat auf geiſtige Entwicklung der Seele. Man darf ſagen:
daß, wie in ſich die Seele das Wunder des geiſtigen Bewußt¬
ſeins, nur ſich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung
einer gewiſſen natürlichen Organiſation, ſo auch nun der
Geiſt ſelbſt den Reichthum, geſunder Gedanken und Erkennt¬
niſſe nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu
und rein die Geſchichte der Natur um ihn her in dem
Weſen ihrer innern Folge in ſich aufnimmt. Dieſes reine
Verhältniß zur Natur iſt daher auch von jeher als ein
Heiliges in der Menſchheit von den Beſten verehrt worden,
und ganz eigen wirkt in dieſer Beziehung eine Stelle im
Euripides, welche auf eine Weiſe, wie ſie nur einem
alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieſes My¬
ſterium ausſpricht. Es iſt die Stelle des Hippolyt an
Artemis:

„Hier dieſen friſchgeflochtnen Kranz, o Herrſcherin!
Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir,
Wo nicht der Hirt zu weiden ſeine Heerde wagt,
Noch Eiſen eindrang jemals, nein die Biene nur
An unentweihter Frühlingsau' vorüberſchwärmt,
Und wo die Unſchuld Gärten pflegt mit Quellenthau,
Daß, wer nichts Angelerntes, ſondern von Natur
Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat,
Daraus darf pflücken; Sündern aber iſt's verſagt.“

Nur von hier aus iſt es daher zu verſtehen, warum
die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck
„natürlich“ ſo hoch ſtellt und als das Siegel eines voll¬
kommen Angemeſſenen erkennt. Es iſt allerdings für die
nähere ſorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬
würdiges, daß dieſelbe innere organiſche Folge, dieſelbe
tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es beſtimmt, daß
in der und der Richtung die Strömungen der Meere und
die Bewegungen der Geſtirne gehen, und daß der Fort¬
gang der Entwicklung eines Mooſes wie der einer Palme
nur gerade ſo und nicht anders ſich verhalten kann, daß
dieſe auch da herrſchen müſſen, wo eine wahrhaft ſchöne
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[396/0412] hat auf geiſtige Entwicklung der Seele. Man darf ſagen: daß, wie in ſich die Seele das Wunder des geiſtigen Bewußt¬ ſeins, nur ſich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung einer gewiſſen natürlichen Organiſation, ſo auch nun der Geiſt ſelbſt den Reichthum, geſunder Gedanken und Erkennt¬ niſſe nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu und rein die Geſchichte der Natur um ihn her in dem Weſen ihrer innern Folge in ſich aufnimmt. Dieſes reine Verhältniß zur Natur iſt daher auch von jeher als ein Heiliges in der Menſchheit von den Beſten verehrt worden, und ganz eigen wirkt in dieſer Beziehung eine Stelle im Euripides, welche auf eine Weiſe, wie ſie nur einem alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieſes My¬ ſterium ausſpricht. Es iſt die Stelle des Hippolyt an Artemis: „Hier dieſen friſchgeflochtnen Kranz, o Herrſcherin! Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir, Wo nicht der Hirt zu weiden ſeine Heerde wagt, Noch Eiſen eindrang jemals, nein die Biene nur An unentweihter Frühlingsau' vorüberſchwärmt, Und wo die Unſchuld Gärten pflegt mit Quellenthau, Daß, wer nichts Angelerntes, ſondern von Natur Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat, Daraus darf pflücken; Sündern aber iſt's verſagt.“ Nur von hier aus iſt es daher zu verſtehen, warum die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck „natürlich“ ſo hoch ſtellt und als das Siegel eines voll¬ kommen Angemeſſenen erkennt. Es iſt allerdings für die nähere ſorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬ würdiges, daß dieſelbe innere organiſche Folge, dieſelbe tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es beſtimmt, daß in der und der Richtung die Strömungen der Meere und die Bewegungen der Geſtirne gehen, und daß der Fort¬ gang der Entwicklung eines Mooſes wie der einer Palme nur gerade ſo und nicht anders ſich verhalten kann, daß dieſe auch da herrſchen müſſen, wo eine wahrhaft ſchöne Reihe von Gedanken ſich entfalten und im Geiſte ſich be¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/412>, abgerufen am 26.05.2024.