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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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hafte Erscheinung auf Erden schon seit Jahrhunderten vor¬
über ist, Vorstellungsreihen in uns, welche noch jetzt durch
unser Bewußtsein auch auf unser unbewußtes Leben, auf
unsern Blutlauf, auf unsere Absonderungen u. s. w. wirken
können. Noch jetzt erregen die Gesänge Homers und die
Tragödien des Sophokles und Shakespeare's bald die un¬
bewußte schnellere Regung unsers Herzens, bald geänderte
Formen unserer Athmung, bald die Absonderung unserer
Thränen, noch jetzt reizen die üppigen Schilderungen Ariost's
und Boccaccio's unsere Sinne, und noch jetzt erfüllt Dante
mit Ugolino's Geschichte uns unwillkürlich und unbewußt
mit einem Schauder unserer sympathischen Nerven; Beweis
genug, daß diese Wirkungen zu den in Wahrheit unerme߬
lichen gehören.

Wie weit, mit Ausnahme jener Beziehungen zwischen
Mutter und Kind, die Möglichkeit gehe einer unmittel¬
baren
Wirkung der bewußten Sphäre einer Seele auf
das unbewußte Leben einer andern, darüber ist schwer im
Allgemeinen zu entscheiden. Gewiß ist es, daß zwischen
sich nahe verbundenen, zu gemeinsamen Dasein herange¬
reiften Seelen die Beziehung sehr genau werden kann;
schwer läßt sich indeß hierüber irgend etwas geradezu in
Form einer psychologischen Thatsache fest hinstellen. Kommt
es wirklich vor, daß z. B. die Gedanken einer Seele un¬
mittelbar etwa einen schnellern Herzschlag und eigenthüm¬
liche Gefühlsstimmung einer andern bewirken können, und
kommt es vor, daß die That oder das empfindliche Leiden
einer Seele, obwohl einer andern gar nichts davon be¬
wußt geworden ist, unmittelbar doch in dieser Seele eine
eigenthümliche Gefühlsanregung, die wir mit dem Worte:
"Ahnung" belegen, hervorrufen kann, so ist dadurch be¬
wiesen, daß auch auf diese Weise unmittelbare Ueberwirkung
der bewußten Sphäre einer Seele auf die unbewußte der
andern möglich ist. Ich bin überzeugt, daß vielen fein¬
fühlenden Seelen entschiedene Erfahrungen hierüber nicht

hafte Erſcheinung auf Erden ſchon ſeit Jahrhunderten vor¬
über iſt, Vorſtellungsreihen in uns, welche noch jetzt durch
unſer Bewußtſein auch auf unſer unbewußtes Leben, auf
unſern Blutlauf, auf unſere Abſonderungen u. ſ. w. wirken
können. Noch jetzt erregen die Geſänge Homers und die
Tragödien des Sophokles und Shakespeare's bald die un¬
bewußte ſchnellere Regung unſers Herzens, bald geänderte
Formen unſerer Athmung, bald die Abſonderung unſerer
Thränen, noch jetzt reizen die üppigen Schilderungen Arioſt's
und Boccaccio's unſere Sinne, und noch jetzt erfüllt Dante
mit Ugolino's Geſchichte uns unwillkürlich und unbewußt
mit einem Schauder unſerer ſympathiſchen Nerven; Beweis
genug, daß dieſe Wirkungen zu den in Wahrheit unerme߬
lichen gehören.

Wie weit, mit Ausnahme jener Beziehungen zwiſchen
Mutter und Kind, die Möglichkeit gehe einer unmittel¬
baren
Wirkung der bewußten Sphäre einer Seele auf
das unbewußte Leben einer andern, darüber iſt ſchwer im
Allgemeinen zu entſcheiden. Gewiß iſt es, daß zwiſchen
ſich nahe verbundenen, zu gemeinſamen Daſein herange¬
reiften Seelen die Beziehung ſehr genau werden kann;
ſchwer läßt ſich indeß hierüber irgend etwas geradezu in
Form einer pſychologiſchen Thatſache feſt hinſtellen. Kommt
es wirklich vor, daß z. B. die Gedanken einer Seele un¬
mittelbar etwa einen ſchnellern Herzſchlag und eigenthüm¬
liche Gefühlsſtimmung einer andern bewirken können, und
kommt es vor, daß die That oder das empfindliche Leiden
einer Seele, obwohl einer andern gar nichts davon be¬
wußt geworden iſt, unmittelbar doch in dieſer Seele eine
eigenthümliche Gefühlsanregung, die wir mit dem Worte:
„Ahnung“ belegen, hervorrufen kann, ſo iſt dadurch be¬
wieſen, daß auch auf dieſe Weiſe unmittelbare Ueberwirkung
der bewußten Sphäre einer Seele auf die unbewußte der
andern möglich iſt. Ich bin überzeugt, daß vielen fein¬
fühlenden Seelen entſchiedene Erfahrungen hierüber nicht

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[388/0404] hafte Erſcheinung auf Erden ſchon ſeit Jahrhunderten vor¬ über iſt, Vorſtellungsreihen in uns, welche noch jetzt durch unſer Bewußtſein auch auf unſer unbewußtes Leben, auf unſern Blutlauf, auf unſere Abſonderungen u. ſ. w. wirken können. Noch jetzt erregen die Geſänge Homers und die Tragödien des Sophokles und Shakespeare's bald die un¬ bewußte ſchnellere Regung unſers Herzens, bald geänderte Formen unſerer Athmung, bald die Abſonderung unſerer Thränen, noch jetzt reizen die üppigen Schilderungen Arioſt's und Boccaccio's unſere Sinne, und noch jetzt erfüllt Dante mit Ugolino's Geſchichte uns unwillkürlich und unbewußt mit einem Schauder unſerer ſympathiſchen Nerven; Beweis genug, daß dieſe Wirkungen zu den in Wahrheit unerme߬ lichen gehören. Wie weit, mit Ausnahme jener Beziehungen zwiſchen Mutter und Kind, die Möglichkeit gehe einer unmittel¬ baren Wirkung der bewußten Sphäre einer Seele auf das unbewußte Leben einer andern, darüber iſt ſchwer im Allgemeinen zu entſcheiden. Gewiß iſt es, daß zwiſchen ſich nahe verbundenen, zu gemeinſamen Daſein herange¬ reiften Seelen die Beziehung ſehr genau werden kann; ſchwer läßt ſich indeß hierüber irgend etwas geradezu in Form einer pſychologiſchen Thatſache feſt hinſtellen. Kommt es wirklich vor, daß z. B. die Gedanken einer Seele un¬ mittelbar etwa einen ſchnellern Herzſchlag und eigenthüm¬ liche Gefühlsſtimmung einer andern bewirken können, und kommt es vor, daß die That oder das empfindliche Leiden einer Seele, obwohl einer andern gar nichts davon be¬ wußt geworden iſt, unmittelbar doch in dieſer Seele eine eigenthümliche Gefühlsanregung, die wir mit dem Worte: „Ahnung“ belegen, hervorrufen kann, ſo iſt dadurch be¬ wieſen, daß auch auf dieſe Weiſe unmittelbare Ueberwirkung der bewußten Sphäre einer Seele auf die unbewußte der andern möglich iſt. Ich bin überzeugt, daß vielen fein¬ fühlenden Seelen entſchiedene Erfahrungen hierüber nicht

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/404>, abgerufen am 26.05.2024.