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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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dann nämlich die eine Seele in ein Verhältniß zur andern,
welches dem ähnlich ist, welches in einer und derselben Seele
das Unbewußte zum Bewußten hat, und wie wir also z. B.
unbewußt und unwillkürlich ein Wässern des Mundes empfin¬
den, wenn wir eine durchschnittene Citrone denken, oder
wie wir einen Schmerz im Auge fühlen können, wenn wir
lebhaft denken, was ein ins Auge gestoßenes Messer für
Folgen haben müßte, so wirkt dort die lebhaft aufgeregte
Phantasie der Mutter zuweilen entschieden auf die Bildung
der in ihrem Schoße reifenden Frucht. Schon entfernter
ist die Einwirkung bei dem Nähren des Kindes an der
Brust, obwohl Beispiele dafür angeführt werden, daß die
Art des bewußten Seelenlebens, wie sie sich im Charakter
der Amme darstellt, nicht ohne Einfluß auf die erst unbe¬
wußte und dann auch im Bewußten sich geltend machende
Entwicklung des Säuglings geblieben war.

Abgesehen von dieser Art des engsten Rapports zweier
menschlicher Individualitäten, tritt im gewöhnlichen Leben
die Wirkung einer bewußten Seele auf das Unbewußte einer
andern meistens nur als eine mittelbare hervor und
zwar vermittelt entweder durch das Unbewußte der gebenden
oder durch das Bewußte der empfangenden Seele. Das
Erste findet namentlich Statt bei jeder Art von sogenannter
magnetischer Einwirkung, so wie bei der geschlechtlichen, in¬
dem ein bewußtes Wollen der gebenden Seele eine Um¬
stimmung setzt in ihrer eigenen unbewußten Region, welche
letztere nun, mit der gleichnamigen Region der andern ab¬
sichtlich in Contact gebracht, ihre eigene Anregung der andern
mittheilt. Das Andere, wo die bewußte Wirkung im Andern
zuerst die bewußte und durch diese die unbewußte Region
afficirt, ist die allergewöhnlichste Art solcher Ueberwirkung,
und es ist schon oben des merkwürdigen Umstandes gedacht
worden, daß Einwirkungen dieser Art durchaus nicht mehr
an Raum und Zeit gebunden sind, denn auf diese Weise
erregen noch heute die Gedanken von Seelen, deren leib¬

dann nämlich die eine Seele in ein Verhältniß zur andern,
welches dem ähnlich iſt, welches in einer und derſelben Seele
das Unbewußte zum Bewußten hat, und wie wir alſo z. B.
unbewußt und unwillkürlich ein Wäſſern des Mundes empfin¬
den, wenn wir eine durchſchnittene Citrone denken, oder
wie wir einen Schmerz im Auge fühlen können, wenn wir
lebhaft denken, was ein ins Auge geſtoßenes Meſſer für
Folgen haben müßte, ſo wirkt dort die lebhaft aufgeregte
Phantaſie der Mutter zuweilen entſchieden auf die Bildung
der in ihrem Schoße reifenden Frucht. Schon entfernter
iſt die Einwirkung bei dem Nähren des Kindes an der
Bruſt, obwohl Beiſpiele dafür angeführt werden, daß die
Art des bewußten Seelenlebens, wie ſie ſich im Charakter
der Amme darſtellt, nicht ohne Einfluß auf die erſt unbe¬
wußte und dann auch im Bewußten ſich geltend machende
Entwicklung des Säuglings geblieben war.

Abgeſehen von dieſer Art des engſten Rapports zweier
menſchlicher Individualitäten, tritt im gewöhnlichen Leben
die Wirkung einer bewußten Seele auf das Unbewußte einer
andern meiſtens nur als eine mittelbare hervor und
zwar vermittelt entweder durch das Unbewußte der gebenden
oder durch das Bewußte der empfangenden Seele. Das
Erſte findet namentlich Statt bei jeder Art von ſogenannter
magnetiſcher Einwirkung, ſo wie bei der geſchlechtlichen, in¬
dem ein bewußtes Wollen der gebenden Seele eine Um¬
ſtimmung ſetzt in ihrer eigenen unbewußten Region, welche
letztere nun, mit der gleichnamigen Region der andern ab¬
ſichtlich in Contact gebracht, ihre eigene Anregung der andern
mittheilt. Das Andere, wo die bewußte Wirkung im Andern
zuerſt die bewußte und durch dieſe die unbewußte Region
afficirt, iſt die allergewöhnlichſte Art ſolcher Ueberwirkung,
und es iſt ſchon oben des merkwürdigen Umſtandes gedacht
worden, daß Einwirkungen dieſer Art durchaus nicht mehr
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[387/0403] dann nämlich die eine Seele in ein Verhältniß zur andern, welches dem ähnlich iſt, welches in einer und derſelben Seele das Unbewußte zum Bewußten hat, und wie wir alſo z. B. unbewußt und unwillkürlich ein Wäſſern des Mundes empfin¬ den, wenn wir eine durchſchnittene Citrone denken, oder wie wir einen Schmerz im Auge fühlen können, wenn wir lebhaft denken, was ein ins Auge geſtoßenes Meſſer für Folgen haben müßte, ſo wirkt dort die lebhaft aufgeregte Phantaſie der Mutter zuweilen entſchieden auf die Bildung der in ihrem Schoße reifenden Frucht. Schon entfernter iſt die Einwirkung bei dem Nähren des Kindes an der Bruſt, obwohl Beiſpiele dafür angeführt werden, daß die Art des bewußten Seelenlebens, wie ſie ſich im Charakter der Amme darſtellt, nicht ohne Einfluß auf die erſt unbe¬ wußte und dann auch im Bewußten ſich geltend machende Entwicklung des Säuglings geblieben war. Abgeſehen von dieſer Art des engſten Rapports zweier menſchlicher Individualitäten, tritt im gewöhnlichen Leben die Wirkung einer bewußten Seele auf das Unbewußte einer andern meiſtens nur als eine mittelbare hervor und zwar vermittelt entweder durch das Unbewußte der gebenden oder durch das Bewußte der empfangenden Seele. Das Erſte findet namentlich Statt bei jeder Art von ſogenannter magnetiſcher Einwirkung, ſo wie bei der geſchlechtlichen, in¬ dem ein bewußtes Wollen der gebenden Seele eine Um¬ ſtimmung ſetzt in ihrer eigenen unbewußten Region, welche letztere nun, mit der gleichnamigen Region der andern ab¬ ſichtlich in Contact gebracht, ihre eigene Anregung der andern mittheilt. Das Andere, wo die bewußte Wirkung im Andern zuerſt die bewußte und durch dieſe die unbewußte Region afficirt, iſt die allergewöhnlichſte Art ſolcher Ueberwirkung, und es iſt ſchon oben des merkwürdigen Umſtandes gedacht worden, daß Einwirkungen dieſer Art durchaus nicht mehr an Raum und Zeit gebunden ſind, denn auf dieſe Weiſe erregen noch heute die Gedanken von Seelen, deren leib¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/403>, abgerufen am 19.05.2024.