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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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da, wo mit jeder Art des Bewußtseins auch der Wille
fehlte, allein alle Gegenwirkung bestimmt hatte; aber es
macht sich nicht geltend als Unbewußtes schlechthin, sondern
in der Form des Gefühls. Wesentlich aber sind es jene
Gefühle, welche wir eben deßhalb die activen nannten, der
Haß und die Liebe, welche, und zwar wieder in sehr ver¬
schiedenen Stufen und Graden, den Willen anregen und
bald stärker, bald schwächer erscheinen lassen. Wenn daher
auch der Ausspruch jenes Franzosen 1: "Aimer c'est vou¬
loir et vouloir c'est aimer,"
zu allgemein ist, so springt
doch die genaue Beziehung, welche zwischen den activen
Gefühlen und der Willensenergie besteht, auf das Deut¬
lichste ins Auge. Mittelbar ist freilich auch hier der Ein¬
fluß der Erkenntniß unverkennbar, da es von ihm abhängt,
ob jene Gefühle von einem Urbilde oder von Scheinbildern
bewegt werden, und ob mehr und mehr allein das höhere,
das positive Gefühl, die Liebe, ihren bestimmenden Einfluß
geltend machen könne, oder ob Haß und Trauer in ähnliche
geringere Gefühle bestimmend einwirken sollen; da aber,
wie wir gefunden haben, die Freiheit des Willens nichts
anderes sein kann, als das Freisein desselben von jeder
ungemäßen Bestimmung, und das immer mehr und zuhöchst
allein Bestimmtwerden durch das unbedingt Höchste -- das
Göttliche -- und da ferner das Göttliche wieder nicht er¬
kannt werden kann, ohne zugleich dergestalt die Liebe der
Seele zu erregen, daß nur in ihm dieses Urgefühl seinen
höchsten Zielpunkt und die ganze Erfüllung seines Wesens
erreiche, so verstehen wir jetzt allerdings, warum die eigent¬
liche Vollendung des Willens eben so sehr von der Er¬
kenntniß als von der Liebe bedingt sein muß. Wir können
uns daher auf keinen Fall verbergen, daß der Wille zu
seiner wahren Vollendung eben so sehr der Liebe als der
Erkenntniß bedürfe, und wir erklären uns daher, daß ein
Willensakt -- eine That -- welche bloß durch Erkenntniß

1 D'Arpentigny, Chirognomonie.

da, wo mit jeder Art des Bewußtſeins auch der Wille
fehlte, allein alle Gegenwirkung beſtimmt hatte; aber es
macht ſich nicht geltend als Unbewußtes ſchlechthin, ſondern
in der Form des Gefühls. Weſentlich aber ſind es jene
Gefühle, welche wir eben deßhalb die activen nannten, der
Haß und die Liebe, welche, und zwar wieder in ſehr ver¬
ſchiedenen Stufen und Graden, den Willen anregen und
bald ſtärker, bald ſchwächer erſcheinen laſſen. Wenn daher
auch der Ausſpruch jenes Franzoſen 1: „Aimer c'est vou¬
loir et vouloir c'est aimer,“
zu allgemein iſt, ſo ſpringt
doch die genaue Beziehung, welche zwiſchen den activen
Gefühlen und der Willensenergie beſteht, auf das Deut¬
lichſte ins Auge. Mittelbar iſt freilich auch hier der Ein¬
fluß der Erkenntniß unverkennbar, da es von ihm abhängt,
ob jene Gefühle von einem Urbilde oder von Scheinbildern
bewegt werden, und ob mehr und mehr allein das höhere,
das poſitive Gefühl, die Liebe, ihren beſtimmenden Einfluß
geltend machen könne, oder ob Haß und Trauer in ähnliche
geringere Gefühle beſtimmend einwirken ſollen; da aber,
wie wir gefunden haben, die Freiheit des Willens nichts
anderes ſein kann, als das Freiſein deſſelben von jeder
ungemäßen Beſtimmung, und das immer mehr und zuhöchſt
allein Beſtimmtwerden durch das unbedingt Höchſte — das
Göttliche — und da ferner das Göttliche wieder nicht er¬
kannt werden kann, ohne zugleich dergeſtalt die Liebe der
Seele zu erregen, daß nur in ihm dieſes Urgefühl ſeinen
höchſten Zielpunkt und die ganze Erfüllung ſeines Weſens
erreiche, ſo verſtehen wir jetzt allerdings, warum die eigent¬
liche Vollendung des Willens eben ſo ſehr von der Er¬
kenntniß als von der Liebe bedingt ſein muß. Wir können
uns daher auf keinen Fall verbergen, daß der Wille zu
ſeiner wahren Vollendung eben ſo ſehr der Liebe als der
Erkenntniß bedürfe, und wir erklären uns daher, daß ein
Willensakt — eine That — welche bloß durch Erkenntniß

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[359/0375] da, wo mit jeder Art des Bewußtſeins auch der Wille fehlte, allein alle Gegenwirkung beſtimmt hatte; aber es macht ſich nicht geltend als Unbewußtes ſchlechthin, ſondern in der Form des Gefühls. Weſentlich aber ſind es jene Gefühle, welche wir eben deßhalb die activen nannten, der Haß und die Liebe, welche, und zwar wieder in ſehr ver¬ ſchiedenen Stufen und Graden, den Willen anregen und bald ſtärker, bald ſchwächer erſcheinen laſſen. Wenn daher auch der Ausſpruch jenes Franzoſen 1: „Aimer c'est vou¬ loir et vouloir c'est aimer,“ zu allgemein iſt, ſo ſpringt doch die genaue Beziehung, welche zwiſchen den activen Gefühlen und der Willensenergie beſteht, auf das Deut¬ lichſte ins Auge. Mittelbar iſt freilich auch hier der Ein¬ fluß der Erkenntniß unverkennbar, da es von ihm abhängt, ob jene Gefühle von einem Urbilde oder von Scheinbildern bewegt werden, und ob mehr und mehr allein das höhere, das poſitive Gefühl, die Liebe, ihren beſtimmenden Einfluß geltend machen könne, oder ob Haß und Trauer in ähnliche geringere Gefühle beſtimmend einwirken ſollen; da aber, wie wir gefunden haben, die Freiheit des Willens nichts anderes ſein kann, als das Freiſein deſſelben von jeder ungemäßen Beſtimmung, und das immer mehr und zuhöchſt allein Beſtimmtwerden durch das unbedingt Höchſte — das Göttliche — und da ferner das Göttliche wieder nicht er¬ kannt werden kann, ohne zugleich dergeſtalt die Liebe der Seele zu erregen, daß nur in ihm dieſes Urgefühl ſeinen höchſten Zielpunkt und die ganze Erfüllung ſeines Weſens erreiche, ſo verſtehen wir jetzt allerdings, warum die eigent¬ liche Vollendung des Willens eben ſo ſehr von der Er¬ kenntniß als von der Liebe bedingt ſein muß. Wir können uns daher auf keinen Fall verbergen, daß der Wille zu ſeiner wahren Vollendung eben ſo ſehr der Liebe als der Erkenntniß bedürfe, und wir erklären uns daher, daß ein Willensakt — eine That — welche bloß durch Erkenntniß 1 D'Arpentigny, Chirognomonie.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/375>, abgerufen am 18.05.2024.