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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Liebe, die Liebe zu Gott, nur erst durch die Tiefe der Er¬
kenntniß, zu der wahren heiligen Gluth aufsteigen kann,
und eben so die höchste Freudigkeit des eigenen Seins erst
aus dem tiefern Blick in das eigenste Wesen der Seele
hervorgeht. Eben so verhält es sich nothwendig umgekehrt
im entgegengesetzten Falle, d. h. daß, je geringer die Er¬
kenntniß ist, um so leichter Scheinbilder das Gefühl täuschen,
und um so heftigere Aufregungen desselben veranlassen kön¬
nen, so daß dann auch unbezweifelt der größte Theil dessen,
was in der Welt an Trauer und Haß, und oft genug auch
das was als Freude und Liebe gilt, nur von einer mangel¬
haften Erkenntniß bedingt wird und darum sehr vergäng¬
licher und in sich geringer Natur erscheint. Dabei ist je¬
doch keinesweges zu übersehen, daß, eben weil eigentlich
die Idee an sich nur im Gefühl unmittelbar lebt und webt
und ist (wodurch, wie oben gesagt wurde, das Gefühl
wieder über der Erkenntniß steht), das Gefühl doch auch
wieder eine gewisse von der Erkenntniß unabhängige Macht
hat, welche zuweilen vor, zuweilen nach der Erkenntniß
und zuweilen gegen alle Erkenntniß seine Schwingungen
bestimmt. Es kommen daher wohl Fälle vor, wo die Er¬
kenntniß geradezu behauptet, daß das Gefühl nicht aufge¬
regt werden solle und eigentlich -- verständig genommen --
gar nicht aufgeregt werden könne, und nichts desto weniger
vielleicht schlagen die Wellen des Gefühls hoch auf; und wie¬
derum andere, wo die Erkenntniß alle Gründe aufzählt, warum
hier eine Aufregung des Gefühllebens eintreten müsse, und
nichts desto weniger bleibt das Gefühl vollkommen kalt; kurz
hier sind die sonderbarsten scheinbaren Widersprüche in Menge
vorhanden. Im Ganzen ist man immer geneigt anzunehmen,
das Gefühl sei an sich allemal das Irrende, aber, obwohl
krankhafte Abschweifungen der Gefühlswelt häufig genug
vorkommen, so ist es doch bei genauerer Erwägung keinem
Zweifel unterworfen, daß in dergleichen Conflicten auch gar
nicht selten ein Irrthum der Erkenntniß obwaltet.

Liebe, die Liebe zu Gott, nur erſt durch die Tiefe der Er¬
kenntniß, zu der wahren heiligen Gluth aufſteigen kann,
und eben ſo die höchſte Freudigkeit des eigenen Seins erſt
aus dem tiefern Blick in das eigenſte Weſen der Seele
hervorgeht. Eben ſo verhält es ſich nothwendig umgekehrt
im entgegengeſetzten Falle, d. h. daß, je geringer die Er¬
kenntniß iſt, um ſo leichter Scheinbilder das Gefühl täuſchen,
und um ſo heftigere Aufregungen deſſelben veranlaſſen kön¬
nen, ſo daß dann auch unbezweifelt der größte Theil deſſen,
was in der Welt an Trauer und Haß, und oft genug auch
das was als Freude und Liebe gilt, nur von einer mangel¬
haften Erkenntniß bedingt wird und darum ſehr vergäng¬
licher und in ſich geringer Natur erſcheint. Dabei iſt je¬
doch keinesweges zu überſehen, daß, eben weil eigentlich
die Idee an ſich nur im Gefühl unmittelbar lebt und webt
und iſt (wodurch, wie oben geſagt wurde, das Gefühl
wieder über der Erkenntniß ſteht), das Gefühl doch auch
wieder eine gewiſſe von der Erkenntniß unabhängige Macht
hat, welche zuweilen vor, zuweilen nach der Erkenntniß
und zuweilen gegen alle Erkenntniß ſeine Schwingungen
beſtimmt. Es kommen daher wohl Fälle vor, wo die Er¬
kenntniß geradezu behauptet, daß das Gefühl nicht aufge¬
regt werden ſolle und eigentlich — verſtändig genommen —
gar nicht aufgeregt werden könne, und nichts deſto weniger
vielleicht ſchlagen die Wellen des Gefühls hoch auf; und wie¬
derum andere, wo die Erkenntniß alle Gründe aufzählt, warum
hier eine Aufregung des Gefühllebens eintreten müſſe, und
nichts deſto weniger bleibt das Gefühl vollkommen kalt; kurz
hier ſind die ſonderbarſten ſcheinbaren Widerſprüche in Menge
vorhanden. Im Ganzen iſt man immer geneigt anzunehmen,
das Gefühl ſei an ſich allemal das Irrende, aber, obwohl
krankhafte Abſchweifungen der Gefühlswelt häufig genug
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nicht ſelten ein Irrthum der Erkenntniß obwaltet.

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[343/0359] Liebe, die Liebe zu Gott, nur erſt durch die Tiefe der Er¬ kenntniß, zu der wahren heiligen Gluth aufſteigen kann, und eben ſo die höchſte Freudigkeit des eigenen Seins erſt aus dem tiefern Blick in das eigenſte Weſen der Seele hervorgeht. Eben ſo verhält es ſich nothwendig umgekehrt im entgegengeſetzten Falle, d. h. daß, je geringer die Er¬ kenntniß iſt, um ſo leichter Scheinbilder das Gefühl täuſchen, und um ſo heftigere Aufregungen deſſelben veranlaſſen kön¬ nen, ſo daß dann auch unbezweifelt der größte Theil deſſen, was in der Welt an Trauer und Haß, und oft genug auch das was als Freude und Liebe gilt, nur von einer mangel¬ haften Erkenntniß bedingt wird und darum ſehr vergäng¬ licher und in ſich geringer Natur erſcheint. Dabei iſt je¬ doch keinesweges zu überſehen, daß, eben weil eigentlich die Idee an ſich nur im Gefühl unmittelbar lebt und webt und iſt (wodurch, wie oben geſagt wurde, das Gefühl wieder über der Erkenntniß ſteht), das Gefühl doch auch wieder eine gewiſſe von der Erkenntniß unabhängige Macht hat, welche zuweilen vor, zuweilen nach der Erkenntniß und zuweilen gegen alle Erkenntniß ſeine Schwingungen beſtimmt. Es kommen daher wohl Fälle vor, wo die Er¬ kenntniß geradezu behauptet, daß das Gefühl nicht aufge¬ regt werden ſolle und eigentlich — verſtändig genommen — gar nicht aufgeregt werden könne, und nichts deſto weniger vielleicht ſchlagen die Wellen des Gefühls hoch auf; und wie¬ derum andere, wo die Erkenntniß alle Gründe aufzählt, warum hier eine Aufregung des Gefühllebens eintreten müſſe, und nichts deſto weniger bleibt das Gefühl vollkommen kalt; kurz hier ſind die ſonderbarſten ſcheinbaren Widerſprüche in Menge vorhanden. Im Ganzen iſt man immer geneigt anzunehmen, das Gefühl ſei an ſich allemal das Irrende, aber, obwohl krankhafte Abſchweifungen der Gefühlswelt häufig genug vorkommen, ſo iſt es doch bei genauerer Erwägung keinem Zweifel unterworfen, daß in dergleichen Conflicten auch gar nicht ſelten ein Irrthum der Erkenntniß obwaltet.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/359>, abgerufen am 18.05.2024.