einer geistigen Wiedergeburt bringt. Erst wenn wir die Erscheinungen nicht bloß wie das Thier mehr anstarren, sondern wenn wir sie in den geistigen Aequivalenten der Worte noch einmal uns zu erbauen, zu construiren ver¬ mögen, dürfen wir sagen, wir erkennen sie, eben so wie wir uns selbst nicht eher erkennen als bis wir über uns denken können. Da also, wo möglichst alles dem Menschen Erscheinende und auch nicht bloß das Gegenwärtige, son¬ dern, dem ewigen Wesen der Seele gemäß, auch das Vergangene und Künftige so weit es ihr möglich ist, ein¬ gegangen ist durch die Verklärung des Gedankens in das volle Bewußtsein des Geistes, da wo der Geist zugleich sich selbst und wo er das Göttliche erschaut hat, da ist diejenige Höhe der Erkenntniß er¬ reicht, welche, wenn sie mit Reinheit des Gemüthes und Freiheit des Willens sich verbindet (und eine so vollkommene Erkenntniß kann nicht ohne gleiche Entwicklung von Gemüth und Willen gedacht werden) die Weisheit darstellt, welche man zu allen Zeiten als ein Zeichen höchster Entwicklung der menschlichen Seele betrachtet hat.
Was den niedrigen Stand der Erkenntniß betrifft, so sind drei sehr verschiedene Verhältnisse merkwürdig. Das erste ist das Naturgemäße, nämlich die schwache Erkennt¬ niß für das erste Lebensstudium des Kindes. Diese In¬ differenz von Fühlen, Wollen und Erkennen, diese, ich möchte sagen, Einfachheit der Seele, ist durchaus schön in sich. Hier soll das Reich des Gedankens noch nicht sich geltend machen, und ein scharfsinniger Gedanke ausge¬ sprochen von einem kleinen Kinde wäre etwas Entsetzendes.
Dasselbe was aber hier natürlich und schön ist, wird auf einer höhern Lebensstufe, wo die Mittel zur Erkennt¬ niß entwickelt sind, widerwärtig und krankhaft. Der Fall ist hier zwiefach: einmal ist die Gedankenwelt in so fern nicht das wahre vereinigende Sublimat von Sinnesvor¬ stellung und Idee, als die platte natürliche Vorstellung
einer geiſtigen Wiedergeburt bringt. Erſt wenn wir die Erſcheinungen nicht bloß wie das Thier mehr anſtarren, ſondern wenn wir ſie in den geiſtigen Aequivalenten der Worte noch einmal uns zu erbauen, zu conſtruiren ver¬ mögen, dürfen wir ſagen, wir erkennen ſie, eben ſo wie wir uns ſelbſt nicht eher erkennen als bis wir über uns denken können. Da alſo, wo möglichſt alles dem Menſchen Erſcheinende und auch nicht bloß das Gegenwärtige, ſon¬ dern, dem ewigen Weſen der Seele gemäß, auch das Vergangene und Künftige ſo weit es ihr möglich iſt, ein¬ gegangen iſt durch die Verklärung des Gedankens in das volle Bewußtſein des Geiſtes, da wo der Geiſt zugleich ſich ſelbſt und wo er das Göttliche erſchaut hat, da iſt diejenige Höhe der Erkenntniß er¬ reicht, welche, wenn ſie mit Reinheit des Gemüthes und Freiheit des Willens ſich verbindet (und eine ſo vollkommene Erkenntniß kann nicht ohne gleiche Entwicklung von Gemüth und Willen gedacht werden) die Weisheit darſtellt, welche man zu allen Zeiten als ein Zeichen höchſter Entwicklung der menſchlichen Seele betrachtet hat.
Was den niedrigen Stand der Erkenntniß betrifft, ſo ſind drei ſehr verſchiedene Verhältniſſe merkwürdig. Das erſte iſt das Naturgemäße, nämlich die ſchwache Erkennt¬ niß für das erſte Lebensſtudium des Kindes. Dieſe In¬ differenz von Fühlen, Wollen und Erkennen, dieſe, ich möchte ſagen, Einfachheit der Seele, iſt durchaus ſchön in ſich. Hier ſoll das Reich des Gedankens noch nicht ſich geltend machen, und ein ſcharfſinniger Gedanke ausge¬ ſprochen von einem kleinen Kinde wäre etwas Entſetzendes.
Daſſelbe was aber hier natürlich und ſchön iſt, wird auf einer höhern Lebensſtufe, wo die Mittel zur Erkennt¬ niß entwickelt ſind, widerwärtig und krankhaft. Der Fall iſt hier zwiefach: einmal iſt die Gedankenwelt in ſo fern nicht das wahre vereinigende Sublimat von Sinnesvor¬ ſtellung und Idee, als die platte natürliche Vorſtellung
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einer geiſtigen Wiedergeburt bringt. Erſt wenn wir die
Erſcheinungen nicht bloß wie das Thier mehr anſtarren,
ſondern wenn wir ſie in den geiſtigen Aequivalenten der
Worte noch einmal uns zu erbauen, zu conſtruiren ver¬
mögen, dürfen wir ſagen, wir erkennen ſie, eben ſo wie
wir uns ſelbſt nicht eher erkennen als bis wir über uns
denken können. Da alſo, wo möglichſt alles dem Menſchen
Erſcheinende und auch nicht bloß das Gegenwärtige, ſon¬
dern, dem ewigen Weſen der Seele gemäß, auch das
Vergangene und Künftige ſo weit es ihr möglich iſt, ein¬
gegangen iſt durch die Verklärung des Gedankens
in das volle Bewußtſein des Geiſtes, da wo der
Geiſt zugleich ſich ſelbſt und wo er das Göttliche
erſchaut hat, da iſt diejenige Höhe der Erkenntniß er¬
reicht, welche, wenn ſie mit Reinheit des Gemüthes und
Freiheit des Willens ſich verbindet (und eine ſo vollkommene
Erkenntniß kann nicht ohne gleiche Entwicklung von Gemüth
und Willen gedacht werden) die Weisheit darſtellt, welche
man zu allen Zeiten als ein Zeichen höchſter Entwicklung
der menſchlichen Seele betrachtet hat.
Was den niedrigen Stand der Erkenntniß betrifft, ſo
ſind drei ſehr verſchiedene Verhältniſſe merkwürdig. Das
erſte iſt das Naturgemäße, nämlich die ſchwache Erkennt¬
niß für das erſte Lebensſtudium des Kindes. Dieſe In¬
differenz von Fühlen, Wollen und Erkennen, dieſe, ich
möchte ſagen, Einfachheit der Seele, iſt durchaus ſchön in
ſich. Hier ſoll das Reich des Gedankens noch nicht ſich
geltend machen, und ein ſcharfſinniger Gedanke ausge¬
ſprochen von einem kleinen Kinde wäre etwas Entſetzendes.
Daſſelbe was aber hier natürlich und ſchön iſt, wird
auf einer höhern Lebensſtufe, wo die Mittel zur Erkennt¬
niß entwickelt ſind, widerwärtig und krankhaft. Der Fall
iſt hier zwiefach: einmal iſt die Gedankenwelt in ſo fern
nicht das wahre vereinigende Sublimat von Sinnesvor¬
ſtellung und Idee, als die platte natürliche Vorſtellung
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/356>, abgerufen am 22.11.2024.
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