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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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irgend eine Erkenntniß der Erscheinungen und ihres We¬
sens eigenthümlich sein müßte. Sprechen wir daher von
Verstand und Vernunft als Besondern und Einzelnen, wie
sie zuhöchst die Erkenntniß bedingen, so müssen wir immer
bedenken, daß hier nur das Vorwaltende in gewissen
Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß
aber nie von einem specifisch Verschiedenen und ganz Ab¬
gesonderten die Rede sein könne. Ja, es kann hier sogleich
beigesetzt werden, daß, geschweige daß nicht die Phantasie
von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern
positiven Gefühle der Freude und Liebe sich nicht von ihr
trennen lassen. Plato sagt sehr schön, daß alle Philosophie
(in dem Worte schon begriffen übrigens die Griechen die
Liebe mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern
anfangen müsse, und spricht damit aus, daß jenes freudige
Erstaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug
unsers Wesens gegen das möglichst tiefe Vernehmen an¬
derer Ideen, zur wesentlichen Quelle für alle höhere Er¬
kenntniß werde.

Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die
Erkenntniß allmählig im Geiste sich entwickelt, so muß man
eine wichtige Thatsache vor Allem schärfer ins Auge fassen,
nämlich wie alle Erkenntniß voraussetzt, daß ein gewisser
Numerus, ein geistiges Aequivalent für Erscheinung sowohl
als Idee gefunden sei, wodurch zwischen diesen beiden für's
erste so disparaten Objecten eine Vermittelung und ein
Verständniß sich ergeben könnte. Dieser Numerus, dieses
Aequivalent ist -- die Sprache. Erscheinung und Idee
liegen, obwohl eins das andere bedingt, scheinbar so un¬
geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande sein
würden, beide im Geiste zusammen zu fassen und damit
zu gebahren, wenn nicht das Wort dazwischen träte, das
Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem
tief innerlichen Erzittern eines Dinges, in welcher inner¬
lichsten geheimsten Bewegung eben die Art des Wesens die¬

irgend eine Erkenntniß der Erſcheinungen und ihres We¬
ſens eigenthümlich ſein müßte. Sprechen wir daher von
Verſtand und Vernunft als Beſondern und Einzelnen, wie
ſie zuhöchſt die Erkenntniß bedingen, ſo müſſen wir immer
bedenken, daß hier nur das Vorwaltende in gewiſſen
Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß
aber nie von einem ſpecifiſch Verſchiedenen und ganz Ab¬
geſonderten die Rede ſein könne. Ja, es kann hier ſogleich
beigeſetzt werden, daß, geſchweige daß nicht die Phantaſie
von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern
poſitiven Gefühle der Freude und Liebe ſich nicht von ihr
trennen laſſen. Plato ſagt ſehr ſchön, daß alle Philoſophie
(in dem Worte ſchon begriffen übrigens die Griechen die
Liebe mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern
anfangen müſſe, und ſpricht damit aus, daß jenes freudige
Erſtaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug
unſers Weſens gegen das möglichſt tiefe Vernehmen an¬
derer Ideen, zur weſentlichen Quelle für alle höhere Er¬
kenntniß werde.

Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die
Erkenntniß allmählig im Geiſte ſich entwickelt, ſo muß man
eine wichtige Thatſache vor Allem ſchärfer ins Auge faſſen,
nämlich wie alle Erkenntniß vorausſetzt, daß ein gewiſſer
Numerus, ein geiſtiges Aequivalent für Erſcheinung ſowohl
als Idee gefunden ſei, wodurch zwiſchen dieſen beiden für's
erſte ſo diſparaten Objecten eine Vermittelung und ein
Verſtändniß ſich ergeben könnte. Dieſer Numerus, dieſes
Aequivalent iſt — die Sprache. Erſcheinung und Idee
liegen, obwohl eins das andere bedingt, ſcheinbar ſo un¬
geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande ſein
würden, beide im Geiſte zuſammen zu faſſen und damit
zu gebahren, wenn nicht das Wort dazwiſchen träte, das
Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem
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[332/0348] irgend eine Erkenntniß der Erſcheinungen und ihres We¬ ſens eigenthümlich ſein müßte. Sprechen wir daher von Verſtand und Vernunft als Beſondern und Einzelnen, wie ſie zuhöchſt die Erkenntniß bedingen, ſo müſſen wir immer bedenken, daß hier nur das Vorwaltende in gewiſſen Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß aber nie von einem ſpecifiſch Verſchiedenen und ganz Ab¬ geſonderten die Rede ſein könne. Ja, es kann hier ſogleich beigeſetzt werden, daß, geſchweige daß nicht die Phantaſie von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern poſitiven Gefühle der Freude und Liebe ſich nicht von ihr trennen laſſen. Plato ſagt ſehr ſchön, daß alle Philoſophie (in dem Worte ſchon begriffen übrigens die Griechen die Liebe mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern anfangen müſſe, und ſpricht damit aus, daß jenes freudige Erſtaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug unſers Weſens gegen das möglichſt tiefe Vernehmen an¬ derer Ideen, zur weſentlichen Quelle für alle höhere Er¬ kenntniß werde. Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die Erkenntniß allmählig im Geiſte ſich entwickelt, ſo muß man eine wichtige Thatſache vor Allem ſchärfer ins Auge faſſen, nämlich wie alle Erkenntniß vorausſetzt, daß ein gewiſſer Numerus, ein geiſtiges Aequivalent für Erſcheinung ſowohl als Idee gefunden ſei, wodurch zwiſchen dieſen beiden für's erſte ſo diſparaten Objecten eine Vermittelung und ein Verſtändniß ſich ergeben könnte. Dieſer Numerus, dieſes Aequivalent iſt — die Sprache. Erſcheinung und Idee liegen, obwohl eins das andere bedingt, ſcheinbar ſo un¬ geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande ſein würden, beide im Geiſte zuſammen zu faſſen und damit zu gebahren, wenn nicht das Wort dazwiſchen träte, das Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem tief innerlichen Erzittern eines Dinges, in welcher inner¬ lichſten geheimſten Bewegung eben die Art des Weſens die¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/348>, abgerufen am 22.11.2024.