leidenschaftlichen Liebestrebens im Allgemeinen aufgestellt werden darf, ist die Einwirkung störender äußerer Einflüsse. Die Geschichte jeder leiblichen Krankheit lehrt, daß wir nicht bloß erkranken, weil allmählig eingetretene innere Ver¬ stimmungen endlich in einer besondern Krankheitsform gleich¬ sam Gestalt gewinnen, sondern daß gar manche Krankheiten auch fast allein durch äußere Einflüsse entstehen, welche auf irgend bedeutende Weise den Gang der gewöhnlichen Lebens¬ begegnungen zu hemmen im Stande sind. Ein ähnliches Verhältniß findet auch bei der Liebesleidenschaft Statt. Die obigen Betrachtungen haben insbesondere auf diejenige Art der Liebeskrankheit hingewiesen, wo dieselbe aus innerer Mangelhaftigkeit der Seele oder Verirrung in der Art ihres Ziels entstand; allein gar wohl ist zu bedenken, daß auch hier ganz häufig äußere Einwirkungen sich geltend machen, und daß namentlich Hinderungen und Hemmungen, welche einem heftigen, in sich gesunden und im Bewußtsein gerechtfertigten leidenschaftlichen Streben entgegentreten, oft¬ mals das Gefühl des Schmerzes, der ohnehin durch die Unzulänglichkeit unsers Daseins immerfort auf gewisse Weise leidend erhaltenen und gequälten Seele, zu einer Höhe treiben können, daß entweder allgemeine Seelenverstimmung und Seelenkrankheit eintreten, oder bei einer nicht genug in sich gekräftigten Seele, die vorher gesunde und ächte Leidenschaft nunmehr in kranke und unschöne Leidenschaft -- gleichsam durch eine Art von Verzweiflung getrieben -- übergehen kann.
Nach alle diesen allgemeinen Erwägungen des krank¬ haften Liebesgefühls wird es nun dem Vorhergehenden an¬ gemessen sein, insbesondere noch von den krankhaften Verstimmungen der Liebe der Geschlechter zu handeln. Wir erinnern uns aber, daß das Wesen einer solchen gesunden Liebe zu suchen war eben in jener von Ur-Anfang der Idee unsers Daseins eingeprägten Sehn¬ sucht nach Vervollständigung und Vollendung unserer Seele, und daß diese Sehnsucht, wie sie ursprünglich nothwendig
leidenſchaftlichen Liebeſtrebens im Allgemeinen aufgeſtellt werden darf, iſt die Einwirkung ſtörender äußerer Einflüſſe. Die Geſchichte jeder leiblichen Krankheit lehrt, daß wir nicht bloß erkranken, weil allmählig eingetretene innere Ver¬ ſtimmungen endlich in einer beſondern Krankheitsform gleich¬ ſam Geſtalt gewinnen, ſondern daß gar manche Krankheiten auch faſt allein durch äußere Einflüſſe entſtehen, welche auf irgend bedeutende Weiſe den Gang der gewöhnlichen Lebens¬ begegnungen zu hemmen im Stande ſind. Ein ähnliches Verhältniß findet auch bei der Liebesleidenſchaft Statt. Die obigen Betrachtungen haben insbeſondere auf diejenige Art der Liebeskrankheit hingewieſen, wo dieſelbe aus innerer Mangelhaftigkeit der Seele oder Verirrung in der Art ihres Ziels entſtand; allein gar wohl iſt zu bedenken, daß auch hier ganz häufig äußere Einwirkungen ſich geltend machen, und daß namentlich Hinderungen und Hemmungen, welche einem heftigen, in ſich geſunden und im Bewußtſein gerechtfertigten leidenſchaftlichen Streben entgegentreten, oft¬ mals das Gefühl des Schmerzes, der ohnehin durch die Unzulänglichkeit unſers Daſeins immerfort auf gewiſſe Weiſe leidend erhaltenen und gequälten Seele, zu einer Höhe treiben können, daß entweder allgemeine Seelenverſtimmung und Seelenkrankheit eintreten, oder bei einer nicht genug in ſich gekräftigten Seele, die vorher geſunde und ächte Leidenſchaft nunmehr in kranke und unſchöne Leidenſchaft — gleichſam durch eine Art von Verzweiflung getrieben — übergehen kann.
Nach alle dieſen allgemeinen Erwägungen des krank¬ haften Liebesgefühls wird es nun dem Vorhergehenden an¬ gemeſſen ſein, insbeſondere noch von den krankhaften Verſtimmungen der Liebe der Geſchlechter zu handeln. Wir erinnern uns aber, daß das Weſen einer ſolchen geſunden Liebe zu ſuchen war eben in jener von Ur-Anfang der Idee unſers Daſeins eingeprägten Sehn¬ ſucht nach Vervollſtändigung und Vollendung unſerer Seele, und daß dieſe Sehnſucht, wie ſie urſprünglich nothwendig
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leidenſchaftlichen Liebeſtrebens im Allgemeinen aufgeſtellt
werden darf, iſt die Einwirkung ſtörender äußerer Einflüſſe.
Die Geſchichte jeder leiblichen Krankheit lehrt, daß wir
nicht bloß erkranken, weil allmählig eingetretene innere Ver¬
ſtimmungen endlich in einer beſondern Krankheitsform gleich¬
ſam Geſtalt gewinnen, ſondern daß gar manche Krankheiten
auch faſt allein durch äußere Einflüſſe entſtehen, welche auf
irgend bedeutende Weiſe den Gang der gewöhnlichen Lebens¬
begegnungen zu hemmen im Stande ſind. Ein ähnliches
Verhältniß findet auch bei der Liebesleidenſchaft Statt. Die
obigen Betrachtungen haben insbeſondere auf diejenige Art
der Liebeskrankheit hingewieſen, wo dieſelbe aus innerer
Mangelhaftigkeit der Seele oder Verirrung in der Art ihres
Ziels entſtand; allein gar wohl iſt zu bedenken, daß auch
hier ganz häufig äußere Einwirkungen ſich geltend
machen, und daß namentlich Hinderungen und Hemmungen,
welche einem heftigen, in ſich geſunden und im Bewußtſein
gerechtfertigten leidenſchaftlichen Streben entgegentreten, oft¬
mals das Gefühl des Schmerzes, der ohnehin durch die
Unzulänglichkeit unſers Daſeins immerfort auf gewiſſe Weiſe
leidend erhaltenen und gequälten Seele, zu einer Höhe treiben
können, daß entweder allgemeine Seelenverſtimmung und
Seelenkrankheit eintreten, oder bei einer nicht genug in ſich
gekräftigten Seele, die vorher geſunde und ächte Leidenſchaft
nunmehr in kranke und unſchöne Leidenſchaft — gleichſam
durch eine Art von Verzweiflung getrieben — übergehen kann.
Nach alle dieſen allgemeinen Erwägungen des krank¬
haften Liebesgefühls wird es nun dem Vorhergehenden an¬
gemeſſen ſein, insbeſondere noch von den krankhaften
Verſtimmungen der Liebe der Geſchlechter zu
handeln. Wir erinnern uns aber, daß das Weſen einer
ſolchen geſunden Liebe zu ſuchen war eben in jener von
Ur-Anfang der Idee unſers Daſeins eingeprägten Sehn¬
ſucht nach Vervollſtändigung und Vollendung unſerer Seele,
und daß dieſe Sehnſucht, wie ſie urſprünglich nothwendig
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/322>, abgerufen am 22.11.2024.
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