können sie absichtlich beschleunigen, unterbrechen, verstärken oder schwächen, und empfinden daran deren volle Abhängig¬ keit von unserer selbstbewußten Seele. Nichts destoweniger geschehen diese Bewegungen in der Regel und fortwährend, unser ganzes Leben hindurch größtentheils vollkommen unbewußt, und machen es uns verständlich, daß zwi¬ schen Bewußtsein und Unbewußtsein eine sehr bewegliche Gränze liegt, und daß das Bewußte wie das Unbewußte Strahlungen einer und derselben Einheit sind. Noch auf¬ fallender vielleicht ist dies bei allen Bewegungen, welche irgend einer Kunstfertigkeit dienen. Hier, ganz in der Region des Bewußtseins, und ausgeführt von durchaus der Willkür unterworfenen Muskeln, ist das was wir "Ein¬ lernen", "Einübung" nennen, gar nichts Anderes, als ein Bestreben, etwas das dem Bewußtsein angehört, wieder in die Region des Unbewußtseins zu bringen. Man denke sich den Klavierspieler: jede einzelne Fingersetzung, Finger¬ schnellung ist ursprünglich willkürlich und muß zuerst durch absichtlich einzeln gewollte Nervenströmung auf die geeigneten Muskeln hervorgerufen werden. Wird sie nun vielfältig hervorgerufen und immer wieder erneut, so geht sie all¬ mählig in ihrer besondern Complication ganz in's Reich des Unbewußtseins über und wird dergestalt dem Bewußtsein entzogen, daß sie einzeln gar nicht mehr gedacht zu werden braucht, sondern daß die Vorstellung vom Realisiren ge¬ wisser Tonfolgen überhaupt schon genug ist um sie ganz unbewußt in ihrer Gesammtheit und in jeder gewollten Zeitfolge eben so sicher hervorzurufen, wie die Athmungs¬ bewegungen ohne unser Darandenken sich folgen. Dasselbe ist der Fall mit dem Erlernen unserer wesentlichsten Orts¬ bewegung, dem Gehen, und so mit hundert Anderem; wor¬ aus sich denn klärlich ergibt, daß im Können auf gleiche Weise wie im Wissen, das Hinübergreifen aus dem Bewußten ins Unbewußte, zur Höhe menschlicher Vollendung wahrhaft gehört.
können ſie abſichtlich beſchleunigen, unterbrechen, verſtärken oder ſchwächen, und empfinden daran deren volle Abhängig¬ keit von unſerer ſelbſtbewußten Seele. Nichts deſtoweniger geſchehen dieſe Bewegungen in der Regel und fortwährend, unſer ganzes Leben hindurch größtentheils vollkommen unbewußt, und machen es uns verſtändlich, daß zwi¬ ſchen Bewußtſein und Unbewußtſein eine ſehr bewegliche Gränze liegt, und daß das Bewußte wie das Unbewußte Strahlungen einer und derſelben Einheit ſind. Noch auf¬ fallender vielleicht iſt dies bei allen Bewegungen, welche irgend einer Kunſtfertigkeit dienen. Hier, ganz in der Region des Bewußtſeins, und ausgeführt von durchaus der Willkür unterworfenen Muskeln, iſt das was wir „Ein¬ lernen“, „Einübung“ nennen, gar nichts Anderes, als ein Beſtreben, etwas das dem Bewußtſein angehört, wieder in die Region des Unbewußtſeins zu bringen. Man denke ſich den Klavierſpieler: jede einzelne Fingerſetzung, Finger¬ ſchnellung iſt urſprünglich willkürlich und muß zuerſt durch abſichtlich einzeln gewollte Nervenſtrömung auf die geeigneten Muskeln hervorgerufen werden. Wird ſie nun vielfältig hervorgerufen und immer wieder erneut, ſo geht ſie all¬ mählig in ihrer beſondern Complication ganz in's Reich des Unbewußtſeins über und wird dergeſtalt dem Bewußtſein entzogen, daß ſie einzeln gar nicht mehr gedacht zu werden braucht, ſondern daß die Vorſtellung vom Realiſiren ge¬ wiſſer Tonfolgen überhaupt ſchon genug iſt um ſie ganz unbewußt in ihrer Geſammtheit und in jeder gewollten Zeitfolge eben ſo ſicher hervorzurufen, wie die Athmungs¬ bewegungen ohne unſer Darandenken ſich folgen. Daſſelbe iſt der Fall mit dem Erlernen unſerer weſentlichſten Orts¬ bewegung, dem Gehen, und ſo mit hundert Anderem; wor¬ aus ſich denn klärlich ergibt, daß im Können auf gleiche Weiſe wie im Wiſſen, das Hinübergreifen aus dem Bewußten ins Unbewußte, zur Höhe menſchlicher Vollendung wahrhaft gehört.
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können ſie abſichtlich beſchleunigen, unterbrechen, verſtärken
oder ſchwächen, und empfinden daran deren volle Abhängig¬
keit von unſerer ſelbſtbewußten Seele. Nichts deſtoweniger
geſchehen dieſe Bewegungen in der Regel und fortwährend,
unſer ganzes Leben hindurch größtentheils vollkommen
unbewußt, und machen es uns verſtändlich, daß zwi¬
ſchen Bewußtſein und Unbewußtſein eine ſehr bewegliche
Gränze liegt, und daß das Bewußte wie das Unbewußte
Strahlungen einer und derſelben Einheit ſind. Noch auf¬
fallender vielleicht iſt dies bei allen Bewegungen, welche
irgend einer Kunſtfertigkeit dienen. Hier, ganz in der
Region des Bewußtſeins, und ausgeführt von durchaus der
Willkür unterworfenen Muskeln, iſt das was wir „Ein¬
lernen“, „Einübung“ nennen, gar nichts Anderes, als ein
Beſtreben, etwas das dem Bewußtſein angehört, wieder in
die Region des Unbewußtſeins zu bringen. Man denke ſich
den Klavierſpieler: jede einzelne Fingerſetzung, Finger¬
ſchnellung iſt urſprünglich willkürlich und muß zuerſt durch
abſichtlich einzeln gewollte Nervenſtrömung auf die geeigneten
Muskeln hervorgerufen werden. Wird ſie nun vielfältig
hervorgerufen und immer wieder erneut, ſo geht ſie all¬
mählig in ihrer beſondern Complication ganz in's Reich des
Unbewußtſeins über und wird dergeſtalt dem Bewußtſein
entzogen, daß ſie einzeln gar nicht mehr gedacht zu werden
braucht, ſondern daß die Vorſtellung vom Realiſiren ge¬
wiſſer Tonfolgen überhaupt ſchon genug iſt um ſie ganz
unbewußt in ihrer Geſammtheit und in jeder gewollten
Zeitfolge eben ſo ſicher hervorzurufen, wie die Athmungs¬
bewegungen ohne unſer Darandenken ſich folgen. Daſſelbe
iſt der Fall mit dem Erlernen unſerer weſentlichſten Orts¬
bewegung, dem Gehen, und ſo mit hundert Anderem; wor¬
aus ſich denn klärlich ergibt, daß im Können auf gleiche
Weiſe wie im Wiſſen, das Hinübergreifen aus dem
Bewußten ins Unbewußte, zur Höhe menſchlicher
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/32>, abgerufen am 31.01.2025.
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