seltsame Beobachtungen gemacht, bei denen es schien als ob sich mit einem Male eine Helligkeit des Bewußtseins über ein ganzes Bereich des Vorstellungslebens vorbereitete. Solche Erfahrung machte einst ein englischer Opiumesser bekannt, dem es vor dem Eintritt der vollen narkotischen Wirkung des betäubenden Mittels vorkam, als ob Alles, was er je ins Bewußtsein aufgenommen hatte, mit einem Male wie eine sonnebeschienene Gegend vor ihm ausge¬ breitet sei. Auf gleiche Weise wird von einem jungen Mädchen erzählt, der bei einem Sturz ins Wasser vor dem Ver¬ lieren des Bewußtseins dasselbe geschehen war. -- Es ist nicht zu leugnen, daß auch in dergleichen das Bedingtsein des Vorstellungslebens von der Innervationsspannung der Hirnsubstanz klar hervortritt. Wenn eine seltene plötzliche Ausstrahlung derselben auf einmal alle Hirnsubstanz durch¬ dringt, so spiegelt nothwendig auch das gesammte Vor¬ stellungsleben auf einmal sich im Geiste wieder; -- fast auf gleiche Weise geben zuweilen in der Sphäre der Reaction plötzliche Erregung der centrifugalen Innervationsströmung in allen Muskelnerven, allgemeinen heftigen Starrkrampf. Die Erregung der Innervation, welche hier vom Hirn nach Außen wirkend den allgemeinen Krampf hervorruft, kann in andrer Beziehung nach Innen gegen das Vorstellungs¬ leben des Hirns strahlend, das Aufflammen eines momentanen allgemeinen Bewußtseins hervorrufen.
Einen deutlichern Begriff uns davon zu machen, wie die Existenz einer Vorstellung beschaffen sei, deren wir uns nicht bewußt sind und die uns doch unverloren ist, wird nie möglich sein; erinnern können wir uns jedoch dabei an das, was wir in der Physiologie ein latentes Leben zu nennen gewohnt sind. Wir treffen nämlich da auch auf Zustände, wo alle wahrnehmbaren Lebensvorgänge, alle Er¬ scheinungen des Lebens aufgehoben sind und das Leben doch nicht erloschen ist (man denke nur etwa an das ein Jahr¬ tausend liegende Samenkorn, dessen Keimfähigkeit sich doch
ſeltſame Beobachtungen gemacht, bei denen es ſchien als ob ſich mit einem Male eine Helligkeit des Bewußtſeins über ein ganzes Bereich des Vorſtellungslebens vorbereitete. Solche Erfahrung machte einſt ein engliſcher Opiumeſſer bekannt, dem es vor dem Eintritt der vollen narkotiſchen Wirkung des betäubenden Mittels vorkam, als ob Alles, was er je ins Bewußtſein aufgenommen hatte, mit einem Male wie eine ſonnebeſchienene Gegend vor ihm ausge¬ breitet ſei. Auf gleiche Weiſe wird von einem jungen Mädchen erzählt, der bei einem Sturz ins Waſſer vor dem Ver¬ lieren des Bewußtſeins daſſelbe geſchehen war. — Es iſt nicht zu leugnen, daß auch in dergleichen das Bedingtſein des Vorſtellungslebens von der Innervationsſpannung der Hirnſubſtanz klar hervortritt. Wenn eine ſeltene plötzliche Ausſtrahlung derſelben auf einmal alle Hirnſubſtanz durch¬ dringt, ſo ſpiegelt nothwendig auch das geſammte Vor¬ ſtellungsleben auf einmal ſich im Geiſte wieder; — faſt auf gleiche Weiſe geben zuweilen in der Sphäre der Reaction plötzliche Erregung der centrifugalen Innervationsſtrömung in allen Muskelnerven, allgemeinen heftigen Starrkrampf. Die Erregung der Innervation, welche hier vom Hirn nach Außen wirkend den allgemeinen Krampf hervorruft, kann in andrer Beziehung nach Innen gegen das Vorſtellungs¬ leben des Hirns ſtrahlend, das Aufflammen eines momentanen allgemeinen Bewußtſeins hervorrufen.
Einen deutlichern Begriff uns davon zu machen, wie die Exiſtenz einer Vorſtellung beſchaffen ſei, deren wir uns nicht bewußt ſind und die uns doch unverloren iſt, wird nie möglich ſein; erinnern können wir uns jedoch dabei an das, was wir in der Phyſiologie ein latentes Leben zu nennen gewohnt ſind. Wir treffen nämlich da auch auf Zuſtände, wo alle wahrnehmbaren Lebensvorgänge, alle Er¬ ſcheinungen des Lebens aufgehoben ſind und das Leben doch nicht erloſchen iſt (man denke nur etwa an das ein Jahr¬ tauſend liegende Samenkorn, deſſen Keimfähigkeit ſich doch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0223"n="207"/>ſeltſame Beobachtungen gemacht, bei denen es ſchien als<lb/>
ob ſich mit einem Male eine Helligkeit des Bewußtſeins<lb/>
über ein ganzes Bereich des Vorſtellungslebens vorbereitete.<lb/>
Solche Erfahrung machte einſt ein engliſcher Opiumeſſer<lb/>
bekannt, dem es vor dem Eintritt der vollen narkotiſchen<lb/>
Wirkung des betäubenden Mittels vorkam, als ob Alles,<lb/>
was er je ins Bewußtſein aufgenommen hatte, mit einem<lb/>
Male wie eine ſonnebeſchienene Gegend vor ihm ausge¬<lb/>
breitet ſei. Auf gleiche Weiſe wird von einem jungen Mädchen<lb/>
erzählt, der bei einem Sturz ins Waſſer vor dem Ver¬<lb/>
lieren des Bewußtſeins daſſelbe geſchehen war. — Es iſt<lb/>
nicht zu leugnen, daß auch in dergleichen das Bedingtſein<lb/>
des Vorſtellungslebens von der Innervationsſpannung der<lb/>
Hirnſubſtanz klar hervortritt. Wenn eine ſeltene plötzliche<lb/>
Ausſtrahlung derſelben auf einmal alle Hirnſubſtanz durch¬<lb/>
dringt, ſo ſpiegelt nothwendig auch das geſammte Vor¬<lb/>ſtellungsleben auf einmal ſich im Geiſte wieder; — faſt auf<lb/>
gleiche Weiſe geben zuweilen in der Sphäre der Reaction<lb/>
plötzliche Erregung der centrifugalen Innervationsſtrömung<lb/>
in allen Muskelnerven, allgemeinen heftigen Starrkrampf.<lb/>
Die Erregung der Innervation, welche hier vom Hirn nach<lb/>
Außen wirkend den allgemeinen Krampf hervorruft, kann<lb/>
in andrer Beziehung nach Innen gegen das Vorſtellungs¬<lb/>
leben des Hirns ſtrahlend, das Aufflammen eines momentanen<lb/><hirendition="#g">allgemeinen</hi> Bewußtſeins hervorrufen.</p><lb/><p>Einen deutlichern Begriff uns davon zu machen, wie<lb/>
die Exiſtenz einer Vorſtellung beſchaffen ſei, deren wir uns<lb/>
nicht bewußt ſind und die uns doch unverloren iſt, wird<lb/>
nie möglich ſein; erinnern können wir uns jedoch dabei an<lb/>
das, was wir in der Phyſiologie <hirendition="#g">ein latentes Leben</hi><lb/>
zu nennen gewohnt ſind. Wir treffen nämlich da auch auf<lb/>
Zuſtände, wo alle wahrnehmbaren Lebensvorgänge, alle Er¬<lb/>ſcheinungen des Lebens aufgehoben ſind und das Leben doch<lb/>
nicht erloſchen iſt (man denke nur etwa an das ein Jahr¬<lb/>
tauſend liegende Samenkorn, deſſen Keimfähigkeit ſich doch<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[207/0223]
ſeltſame Beobachtungen gemacht, bei denen es ſchien als
ob ſich mit einem Male eine Helligkeit des Bewußtſeins
über ein ganzes Bereich des Vorſtellungslebens vorbereitete.
Solche Erfahrung machte einſt ein engliſcher Opiumeſſer
bekannt, dem es vor dem Eintritt der vollen narkotiſchen
Wirkung des betäubenden Mittels vorkam, als ob Alles,
was er je ins Bewußtſein aufgenommen hatte, mit einem
Male wie eine ſonnebeſchienene Gegend vor ihm ausge¬
breitet ſei. Auf gleiche Weiſe wird von einem jungen Mädchen
erzählt, der bei einem Sturz ins Waſſer vor dem Ver¬
lieren des Bewußtſeins daſſelbe geſchehen war. — Es iſt
nicht zu leugnen, daß auch in dergleichen das Bedingtſein
des Vorſtellungslebens von der Innervationsſpannung der
Hirnſubſtanz klar hervortritt. Wenn eine ſeltene plötzliche
Ausſtrahlung derſelben auf einmal alle Hirnſubſtanz durch¬
dringt, ſo ſpiegelt nothwendig auch das geſammte Vor¬
ſtellungsleben auf einmal ſich im Geiſte wieder; — faſt auf
gleiche Weiſe geben zuweilen in der Sphäre der Reaction
plötzliche Erregung der centrifugalen Innervationsſtrömung
in allen Muskelnerven, allgemeinen heftigen Starrkrampf.
Die Erregung der Innervation, welche hier vom Hirn nach
Außen wirkend den allgemeinen Krampf hervorruft, kann
in andrer Beziehung nach Innen gegen das Vorſtellungs¬
leben des Hirns ſtrahlend, das Aufflammen eines momentanen
allgemeinen Bewußtſeins hervorrufen.
Einen deutlichern Begriff uns davon zu machen, wie
die Exiſtenz einer Vorſtellung beſchaffen ſei, deren wir uns
nicht bewußt ſind und die uns doch unverloren iſt, wird
nie möglich ſein; erinnern können wir uns jedoch dabei an
das, was wir in der Phyſiologie ein latentes Leben
zu nennen gewohnt ſind. Wir treffen nämlich da auch auf
Zuſtände, wo alle wahrnehmbaren Lebensvorgänge, alle Er¬
ſcheinungen des Lebens aufgehoben ſind und das Leben doch
nicht erloſchen iſt (man denke nur etwa an das ein Jahr¬
tauſend liegende Samenkorn, deſſen Keimfähigkeit ſich doch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/223>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.