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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Wärme, und mit Nothwendigkeit, so wie der rechte Wärme¬
grad einwirkt, komme er vom mütterlichen Thiere oder von
der Brutmaschine, schießen die Zellen in der Keimfläche
an, entstehen Auflösungen und Neubildungen, kreisen die
Säfte, zucken die Herzmuskeln und bildet sich nach und
nach das ganze noch seelenlose Geschöpf -- noch immer
allein der Nothwendigkeit gehorchend. Erst wenn die
Bildung nun bis auf eine gewisse Höhe gelangt ist, wenn
das Nervensystem sich mehr consolidirt hat, und wenn
die Hülle gesprengt ist, welche den Verkehr mit einem
größern Kreise der Außenwelt hinderte, tritt zwischen Ein¬
wirkung und Gegenwirkung ein Neues auf -- wir nennen
es Gefühl, in seiner ersten unbestimmtesten Form Ge¬
meingefühl
; und so wie dieses dritte, mittlere, zwi¬
schen
einem Aufnehmen von Außen, und Reagiren gegen
ein Aeußeres, sich entwickelt hat, hört die unbedingte
Nothwendigkeit
aller Lebenserscheinungen auf, und in
der zunächst vom Nervensystem bestimmten Region ist es
nun, allwo zum ersten Male sich eine gewisse Unab¬
hängigkeit geltend macht, wo nun ein inneres Princip mit
einer gewissen Selbstständigkeit auftritt, an welchem gleich¬
sam gemessen wird, ob die Einwirkung die Gegenwirkung
zur Folge haben solle oder nicht. Von nun an ist es nicht
mehr unbedingt nothwendig, daß der Einwirkung die Ge¬
genwirkung vollkommen entspreche; eine kleine Einwirkung
kann eine starke Gegenwirkung zur Folge haben und um¬
gekehrt; ein mittleres Bestimmendes ist aufgetreten -- die
Idee dieses Daseins hat gewissermaßen nun erst eine Re¬
präsentation, eine gewisse unmittelbare Geltung in der
äußern Erscheinung erlangt. Dieser Anfangspunkt des
Bewußtseins, dieser Punkt der ersten unmittelbaren Mani¬
festation der Seele, er ist es, welcher mit der größten
Aufmerksamkeit ins Auge gefaßt werden muß, wenn uns
die Entfaltung des Seelenlebens deutlich werden soll; hier
liegt das Urphänomen
aller dieser Vorgänge, und

Wärme, und mit Nothwendigkeit, ſo wie der rechte Wärme¬
grad einwirkt, komme er vom mütterlichen Thiere oder von
der Brutmaſchine, ſchießen die Zellen in der Keimfläche
an, entſtehen Auflöſungen und Neubildungen, kreiſen die
Säfte, zucken die Herzmuskeln und bildet ſich nach und
nach das ganze noch ſeelenloſe Geſchöpf — noch immer
allein der Nothwendigkeit gehorchend. Erſt wenn die
Bildung nun bis auf eine gewiſſe Höhe gelangt iſt, wenn
das Nervenſyſtem ſich mehr conſolidirt hat, und wenn
die Hülle geſprengt iſt, welche den Verkehr mit einem
größern Kreiſe der Außenwelt hinderte, tritt zwiſchen Ein¬
wirkung und Gegenwirkung ein Neues auf — wir nennen
es Gefühl, in ſeiner erſten unbeſtimmteſten Form Ge¬
meingefühl
; und ſo wie dieſes dritte, mittlere, zwi¬
ſchen
einem Aufnehmen von Außen, und Reagiren gegen
ein Aeußeres, ſich entwickelt hat, hört die unbedingte
Nothwendigkeit
aller Lebenserſcheinungen auf, und in
der zunächſt vom Nervenſyſtem beſtimmten Region iſt es
nun, allwo zum erſten Male ſich eine gewiſſe Unab¬
hängigkeit geltend macht, wo nun ein inneres Princip mit
einer gewiſſen Selbſtſtändigkeit auftritt, an welchem gleich¬
ſam gemeſſen wird, ob die Einwirkung die Gegenwirkung
zur Folge haben ſolle oder nicht. Von nun an iſt es nicht
mehr unbedingt nothwendig, daß der Einwirkung die Ge¬
genwirkung vollkommen entſpreche; eine kleine Einwirkung
kann eine ſtarke Gegenwirkung zur Folge haben und um¬
gekehrt; ein mittleres Beſtimmendes iſt aufgetreten — die
Idee dieſes Daſeins hat gewiſſermaßen nun erſt eine Re¬
präſentation, eine gewiſſe unmittelbare Geltung in der
äußern Erſcheinung erlangt. Dieſer Anfangspunkt des
Bewußtſeins, dieſer Punkt der erſten unmittelbaren Mani¬
feſtation der Seele, er iſt es, welcher mit der größten
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liegt das Urphänomen
aller dieſer Vorgänge, und

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[117/0133] Wärme, und mit Nothwendigkeit, ſo wie der rechte Wärme¬ grad einwirkt, komme er vom mütterlichen Thiere oder von der Brutmaſchine, ſchießen die Zellen in der Keimfläche an, entſtehen Auflöſungen und Neubildungen, kreiſen die Säfte, zucken die Herzmuskeln und bildet ſich nach und nach das ganze noch ſeelenloſe Geſchöpf — noch immer allein der Nothwendigkeit gehorchend. Erſt wenn die Bildung nun bis auf eine gewiſſe Höhe gelangt iſt, wenn das Nervenſyſtem ſich mehr conſolidirt hat, und wenn die Hülle geſprengt iſt, welche den Verkehr mit einem größern Kreiſe der Außenwelt hinderte, tritt zwiſchen Ein¬ wirkung und Gegenwirkung ein Neues auf — wir nennen es Gefühl, in ſeiner erſten unbeſtimmteſten Form Ge¬ meingefühl; und ſo wie dieſes dritte, mittlere, zwi¬ ſchen einem Aufnehmen von Außen, und Reagiren gegen ein Aeußeres, ſich entwickelt hat, hört die unbedingte Nothwendigkeit aller Lebenserſcheinungen auf, und in der zunächſt vom Nervenſyſtem beſtimmten Region iſt es nun, allwo zum erſten Male ſich eine gewiſſe Unab¬ hängigkeit geltend macht, wo nun ein inneres Princip mit einer gewiſſen Selbſtſtändigkeit auftritt, an welchem gleich¬ ſam gemeſſen wird, ob die Einwirkung die Gegenwirkung zur Folge haben ſolle oder nicht. Von nun an iſt es nicht mehr unbedingt nothwendig, daß der Einwirkung die Ge¬ genwirkung vollkommen entſpreche; eine kleine Einwirkung kann eine ſtarke Gegenwirkung zur Folge haben und um¬ gekehrt; ein mittleres Beſtimmendes iſt aufgetreten — die Idee dieſes Daſeins hat gewiſſermaßen nun erſt eine Re¬ präſentation, eine gewiſſe unmittelbare Geltung in der äußern Erſcheinung erlangt. Dieſer Anfangspunkt des Bewußtſeins, dieſer Punkt der erſten unmittelbaren Mani¬ feſtation der Seele, er iſt es, welcher mit der größten Aufmerkſamkeit ins Auge gefaßt werden muß, wenn uns die Entfaltung des Seelenlebens deutlich werden ſoll; hier liegt das Urphänomen aller dieſer Vorgänge, und

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/133>, abgerufen am 08.05.2024.